Laura Marling | Biografie

Laura Marling Biografie

Als ich gegen Ende 2011 damit begann, die Songs für mein neues Album zu schreiben, wohnte ich gerade in einer recht bescheidenen Wohnung, oben im Dachgeschoss eines Londoner Reihenhauses. Ich lebte gerne in so einem Gebäude, das zwar mal prachtvoll angelegt worden, aber wie eigentlich alles in der Großstadt, über die Jahre viel von seiner Größe und Schönheit eingebüßt hatte, kaputt gemacht und allenfalls behelfsmäßig wieder geflickt worden war, um noch ein paar mehr, immer noch ein paar mehr darin unterzubringen… Negativ ausgedrückt, war das Haus verstümmelt worden, dabei konnte man es auch positiv sehen: es war eben modernisiert worden, einer anderen Zeit angepasst, damit es weiterhin seinen Dienst tun – und wichtiger noch: auch mir noch als Bleibe dienen konnte.
Die etwas beengten Platzverhältnisse wurden schon dadurch wieder wettgemacht, dass das Haus zwei Vorzüge hatte, von denen ich beim Einzug keinen blassen Schimmer hatte: Erstens war da, wenn auch höchst illegal, der Zugang aufs Flachdach, was im Klartext hieß: ein spektakulärer Blick auf diese grausame Stadt und so viel Zeit ich wollte, wenn der Regen mir da keinen Strich durch die Rechnung machte, allein mit derjenigen Gitarre, in die ich mich gerade verguckt hatte – und das ohne Gefahr zu laufen, andere zu stören, oder schlimmer noch: dabei von anderen gestört zu werden.
Die andere Sache war ein Plattenspieler, eine wirklich fantastisch klingende Anlage. Natürlich hatte ich schon vorher Bekanntschaft mit Plattenspielern gemacht, ja ich hatte sogar schon das Glück gehabt, richtig gute Musik auf richtig guten Anlagen zu hören, aber diese Mischung aus Vinyl-Hören und sich dabei aus dem Fenster des obersten Stockwerks zu lehnen und die Welt und ihr ganzes Treiben vorüberziehen zu sehen – das hat mir ehrlich gesagt immer wieder Momente absoluten Glücks und absoluter Klarheit beschert.
Und zwischen diesen Momenten, zwischen der Verstümmelung jenes Traums, den ein Architekt mal gehabt hatte, und dem simplen Vergnügen, dem Kratzen der Nadel auf einem Medium zu lauschen, das so antiquiert ist, dass es schon wieder angesagt ist, wurde mir klar, dass sich die Dinge und in diesem Fall die Medien nun mal verändern – und dass sie im Grunde genommen häufig sogar viel zu lange als fixer Maßstab gelten. Die Länge eines Albums zum Beispiel – eine Sache, die ich natürlich nicht als erste, ja nicht einmal als 20. feststelle –, sie geht schließlich nur darauf zurück, was nun mal an Musik auf so eine Vinyl-Schallplatte passte. Die Länge eines Songs hingegen, und das gebe ich noch weniger gern zu, hat sich wohl so ergeben, weil es einerseits das Radio so wollte und das Radiopublikum auch gar nicht über eine längere Aufmerksamkeitsspanne verfügt; eigentlich ja auch nichts Schlechtes, sondern eine notwendige Evolution. Wenn einer wie Stephen Fry sogar schon die Aufnahme von “Text Speak” in unsere gewöhnliche Sprache für möglich hält, dann bin ich die Letzte, die sich darüber aufregt, was Technologie und Angebot und Nachfrage in den vergangenen Jahrzehnten aus der Popmusik gemacht haben.
Dabei haben sich die Zeiten schon wieder verändert, denn inzwischen geht das alles so schnell, dass keiner mehr mithalten könnte; genau genommen dreht sich das Rad sogar so schnell, dass selbst so etwas wie die Kunst selbst nicht mehr mithalten kann. Was das für uns nun bedeutet? Dass man persönlicher werden muss, weniger moralisch? Was bedeutet das für mich? Und mit wem oder was muss ich meine Entscheidung abgleichen, sie vor wem rechtfertigen? Mit der Musik, die mein Vater mir als kleines, leicht zu beeindruckendes Kind vorspielte? Oder mit den Akkorden, die er mir als selbstverliebtes Teenager-Mädel beibrachte? Den Worten der ganzen Meister, die, ob nun lebendig oder tot, ihre Spuren auf dieser Welt hinterlassen haben, in welchem Medium auch immer? Ich weiß es ehrlich gesagt nicht, doch die Tatsache, welcher Wert der Musik in diesem kapitalistischen System beigemessen wird, sorgt irgendwie dafür, dass es letztlich auch quasi egal ist. Die Freiheit kann ihre Fratze auch an überraschend beengten, exakt abgesteckten Orten zeigen, das steht fest. Was also ist der Zweck, der Nutzen der Kunst? Inwiefern ist sie eine Ware wie jede andere, und wie hat sie sich im Vergleich zu allen anderen Dingen im Laufe der Zeit verändert? Das sind so die Fragen, die mir ein paar hundert Stunden Schlaf geraubt haben. Doch damit ist jetzt Schluss, oh ja.
Während ich nämlich über diese ganzen notwendigen Entwicklungen und Veränderungen nachdachte, landete ich bei etwas, das ich als einen wunderbaren Aspekt der Menschheit bezeichnen würde: ihren Durst, immer Neues zu lernen und die Dinge besser zu gestalten. Mehr noch, denn dieser Gedanke zog noch eine Einsicht nach sich: Und zwar, wie wir unseren Moralbegriff ständig erweitern und verändern, um überhaupt mit dem ganzen Wandel klarzukommen; und wie wir auch heute noch nicht ohne die Hilfe anderer auskommen, und wie es, Gott sei Dank, immer noch einen Teil in uns gibt, der sich auch nicht zu schade dafür ist, andere um Hilfe zu bitten. Das wiederum brachte mich zu der Frage nach dem eigentlichen Zweck von “Selbstausdruck”; warum müssen wir uns überhaupt ausdrücken, das dann auch noch festhalten und weiterkommunizieren?
Ich glaube, die Antwort darauf ist folgende: Um mit anderen Menschen zu teilen, was wir gelernt haben, und um umgekehrt von anderen zu erfahren, was sie auf ihrem Weg gesehen und gedacht und gelernt haben.
Diese Einsicht ließ mich endlich ruhen, mehr oder weniger. Ich kann und sollte der Welt also nichts anderes in meiner Musik präsentieren, als das, was ich gelernt habe – und mit Welt meine ich natürlich nur diejenigen, die daran interessiert sind. Menschen fühlen sich normalerweise gut und zufrieden, wenn sie etwas verstehen oder verstanden werden.
Also schrieb ich eine ganz schlichte Story, lose basierend auf dem, was ich gesehen hatte, was ich gedacht hatte, was ich gelernt hatte, schrieb alles auf, bis zu jenem Punkt, an den mich diese Einsichten geführt hatten. Ich setzte dafür mal wieder auf die klassische Technik, die Gefühle als wilde Tiere oder Vögel zu personifizieren; und ob ich mich dabei nun viel zu freizügig zeige oder nicht, sei dahingestellt: das hier ist in jedem Fall das Resultat dieser Herangehensweise; es entstand zudem frei von der Auflage, hinterher jener Konventionen entsprechen zu müssen, die ich zuvor als Albumdefinition ausgemacht hatte.  
Wie dem auch sei: So viel anders als dieses konventionelle Standard-Album ist es dann ja trotzdem gar nicht ausgefallen. Vielleicht einen Tick länger als der Durchschnitt. Und Hitkandidaten fürs Radio, die sucht man vergebens.  
 
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