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Künstlerblick

04.01.2006
In der Kritik wird Alfred Brendel gerne als einer der letzten Pianisten der alten Schule charakterisiert. Man betont seine Anschlagskultur, die interpretatorische Tiefe seiner musikalischen Vorstellungen, außerdem seinen Geschmack, seine scheinbar grenzenlose spieltechnische Perfektion, die wiederum ohne virtuose Spielereien nur auf dem profunden Verständnis der Musik beruht, die er umzusetzen sich vornimmt. Er selbst allerdings ist sehr viel vorsichtiger im Urteil und sieht manches als vorläufig an, was er während der vergangenen Jahrzehnte für die Nachwelt auf Tonträgern festgehalten hat. Umso mehr war Alfred Brendel von der Idee fasziniert, anlässlich seines 75. Geburtstages am 5. Januar 2006 eine Auswahl aus den Dokumenten treffen zu dürfen, die für die Philips entstanden sind. So ist die Reihe Artist’s Choice eine Zusammenstellung vorläufig letzter Hand und gehört daher autorisiert zum Besten, was der außergewöhnliche Pianist zu bieten hat.
Die Auswahl fällt nicht immer leicht, besonders für einen Künstler, der im Laufe seiner Karriere nicht nur immer besser, sondern auch immer anspruchsvoller geworden ist: “Die neue Philips-Serie versucht also, ein, wenn auch lückenhaftes, Fazit zu ziehen”, meint Brendel zu der Idee, die hinter Artist’s Choice steht, und ergänzt: “Dabei war es mein Vorteil, dass ich soviel aufgenommen habe: Die Chance, Aufführungen zu finden, in denen der Spieler sich wieder erkennt, wird dadurch jedenfalls größer.” Die Kriterien, die eine gute Einspielung ausmachen, sind dabei von zahlreichen Variablen abhängig, deren Beeinflussung nur zum Teil in der Macht des Interpreten steht: “Zu den vielen Dingen, die den Stellenwert einer Aufnahme bestimmen, gehören die momentane Beziehung zum Stück, die ‘Tagesform’, der Raum, das Instrument, der Klaviertechniker, die musikalischen Partner sowie das Glück und die Kompetenz der Tonmeister bis in die Klangmischung des Endresultats hinein. Auf meiner CD des d-Moll Konzerts von Brahms mit den Berliner Philharmonikern und Claudio Abbado etwa klingt der Flügel, als sei er nicht vor, sondern im Orchester placiert. Glücklicherweise gibt es eine hervorragend balancierte Konzertproduktion mit dem Orchester des Bayerischen Rundfunks unter Sir Colin Davis, die neben anderen mir besonders am Herzen liegenden Live-Aufnahmen in dieser Serie folgen soll”.
 
Bislang jedenfalls sind vier Doppel-CDs und eine DVD mit einem ebenso speziellen wie reizvollen Repertoire erschienen. Im Falle Mozarts zum Beispiel sind auf einer CD zwei der besten Interpretationen zum einen des d-Moll Konzerts KV 466 mit dem Scottish Chamber Orchestra unter der Leitung von Sir Charles Mackerras, zum anderen der F-Dur Sonate KV 332 überhaupt vertreten, die während der vergangenen Jahrzehnte verwirklicht wurden. Sie wurden nicht nur mit weiteren Klangpretiosen des Salzburger Jubilars kombiniert, sondern auch mit einer zweiten CD, die vier Sonaten von Joseph Haydn in einer betörend ausgewogenen Darstellung präsentiert. Eine andere Sammlung widmet sich dem Klavierwerk Ludwig van Beethovens mit dem Fokus auf den mittleren und späten Sonaten, dem vierten Klavierkonzert und den 6 Bagatellen op.128, den letzten Kompositionen für Solo-Klavier, die der taube Meister geschrieben hat.
 
Die dritte Doppel-CD wendet sich zwei Romantikern zu, zum einen dem Spieltechnik-Guru Franz Liszt, dessen opulente Sonate in h-Moll Brendel mit der ihm eigenen unpathetischen Lakonik interpretiert. Dem gegenüber wirkt er im Falle von Schumanns Kreisleriana op. 16 beinahe verspielt, jedenfalls deutlich gelöster als beim Übervater des modernen Virtuosentums. Bleiben schließlich noch zwei Zusammenstellungen mit Werken von Schubert, für dessen Werk-Interpretation Alfred Brendel als eine der zentralen Autoritäten gilt. Zum einen befasst er sich auf CD mit fünf Sonaten des musikalischen Genius, zwei davon (A-Dur D959, B-Dur D960) sind auch auf DVD im remasterten Surround-Format in einer Aufnahme aus der Great Hall of the Middle Temple in London erhältlich, die im Januar 1988 entstand. So kann man sich in diesem Frühjahr inhaltlich ausführlich, kompetent kommentiert und liebevoll ediert einer der faszinierendsten Musikerpersönlichkeiten widmen, die die vergangene Jahrhunderthälfte hervorgebracht hat.
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