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Schäferträume

31.10.2003
Der Mensch sehnt sich nach Schlichtheit, Unmittelbarkeit. Je komplizierter sich die Welt um ihn herum darstellt, desto eher neigt er dazu, sich in idyllische Gegenentwürfe zu flüchten. Als etwa den Zeitgenossen des Barocks die Regelwerke ihrer Epoche zu verwirrend wurden, proklamierten sie die neue Einfachheit der Empfindung und Wahrnehmung. Der Ort, an dem dieser geläuterte Mensch seine Erfüllung würde finden können, bekam einen Namen: Arkadien.
Mit der Renaissance war der Mensch dem Mittelalter entwachsen. Zu den wesentlichen Impulsen, die ihn neuen Erkenntnissen entgegen führten, gehörte die Wiederentdeckung der Antike als Hort der abendländischen Zivilisation. Ob Philosophie, Bildende Kunst, Architektur oder Literatur, die Werke der griechisch-römischen Kulturblüte wurde bestimmten Kreisen von Intellektuellen, Dichtern und Denkern zum Maßstab der Beurteilung zeitgenössischer Phänomene. Man übernahm nicht nur die konkreten, zum Beispiel als Skulpturen oder literarische Texte fassbaren Zeugnisse, sondern auch mythologische Ideen, die unter veränderten Vorzeichen umgedeutet wurden. Während in der Realität von den Reformation bis zum Dreißigjährigen Krieg Chaos und Verwüstung herrschten, konstruierte man im Fiktionalen aparte Naturräume, in denen das Menschsein lustvoll und friedlich vonstatten ging.
 
Einer dieser Kunsträume war Arkadien. Geographisch gesehen eine verkarsteten Landschaft auf dem Peloponnes galt sie in der Mythologie als Heimat des Pan, des Naturgottes und Beschützers der Schäfer. Theokrit hatte mit der ersten Fixierung der Geschichten begonnen, sein römischer Kollege Vergil mit den “Eklogen” schließlich eine neue Gattung der Schäfergedichte aus der Taufe gehoben. Gepriesen wurde ein goldenes Zeitalter, ein naturfernes Ideal des Landlebens friedlicher und bedürfnisloser Hirten und Schäfer in anmutiger Landschaft. Die höfische Gesellschaft der Renaissance nahm solche Gedanken wieder auf und kultivierte sie als aristokratisches Spiel in Literatur und Kunst bis hin zu manieristischen Kostümfesten, ländlichen Lustschlösschen, Meiereien. Spätestens seit Sannazaros “Arcadia”-Roman von 1504 war der Mythos wieder präsent und wurde in verschiedenen Transformationen von Cervantes (“Galatea”, 1585) bis Sidney (Arcadia" 1590) und van Heemskerck (“Arcadia”, 1637) weitergeführt. Die Ausläufer reichten bis in die Anakreontik im Zeitalter der Aufklärung, als noch der junge Goethe mit “Laune der Verliebten” (1767) ein Schäferspiel verfasste. Maler wie Nicholas Poussin oder Claude Lorrain übertrugen die Hirtenidyllen in zuweilen großformatige Bilderfolgen. Und Gesellschaften wie die Accademia dell’Arcadia pflegten den utopischen locus amoenus als gedankliche Gegengewichte zu barockern Regelwerken.
 
So entstanden elitäre Kreise gebildeter Schäferfreunde, zu denen in seltenen Fällen auch Musiker und Komponisten gezählt werden konnten. Es war nicht selbstverständlich und selbst für Größen ihres Fachs wie Scarlatti, Pasquini und Corelli eine Ehre, als sie 1706 in den Kreis der Hirten Arkadiens aufgenommen wurden. Sie revanchierten sich mit Kompositionen, die dem Ideal der Einfachheit (bei gleichzeitig enormer Kunstfertigkeit) verpflichtet waren. Als der Countertenor Andreas Scholl sich daher auf der Suche nach Kammerkantaten der arkadischen Epoche machte, fand er über Alessandro Borins Hilfe in zahlreichen Archiven von Stuttgart bis Neapel typische Beispiele für die elegante Umsetzung der in vieler Hinsicht typisierten literarischen Vorlagen. Gemeinsam mit der Accademia Bizantina unter der Leitung des Cembalisten Ottavio Dantone machte er sich daraufhin im Februar 2003 ans Werk und archivierte acht markante Beispiele von Francesco Gasparini bis Alessandro Scarlatti für sein Programm “Arcadia”. Er schuf damit ein Kompendium von Ersteinspielungen seltener Repertoirejuwelen, deren schlichte Schönheit nicht nur die Spezialisten begeistern wird.

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