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Lieben Sie Gluck?

21.12.2001
Reicher Fund: Cecilia Bartoli kommt aus den Musikarchiven mit italienischen Arien von Christoph Willibald Gluck – sechs von acht sind nigelnagelneu auf CD.
In Abwandlung eines gern und oft verwendeten Zitates von Françoise Sagan lassen Sie uns doch einfach mal die Frage stellen: “Lieben Sie Gluck?” Sollten Sie sich darüber noch nicht ganz schlüssig sein, dann macht das gar nichts. Denn nach dem Anhören von Cecilia Bartolis neuestem musikalischem Coup werden Sie den Ritter Gluck genauso in Ihr Herz geschlossen haben wie seine Fürsprecherin, pardon: Fürsängerin. Und damit wir uns gleich richtig verstehen: Es behaupte keiner leichtfertig, er kenne seinen Gluck. Denn Gluck ist nämlich nicht gleich Gluck! Natürlich kennt man das berühmte, in allen möglichen und unmöglichen Varianten dargebotene “Che farò senza Euridice?” zur Genüge. Und auch das sehnsuchtsvoll-melancholische “O del mio dolce dolor” aus “Paride ed Elena” ist eine gern gegebene Zugnummer in den Recitalprogrammen großer Sängerinnen (und Sänger!). Und gar als Gluck-Kenner sieht sich gern jener, der bei Iphigénies großer Arie “Ô malheureuse Iphigénie” feuchte Augen bekommt.
 
Dass Meister Gluck dieselbe Musik bereits in seiner 1752, also zwei Jahrzehnte früher komponierten Oper “La clemenza di Tito” (nein, kein Irrtum, Mozart kam viel später!) verwendete, dürfte unserem bekennenden Gluck-Enthusiasten und seinesgleichen wohl bislang verborgen geblieben sein. Nicht so Cecilia Bartoli und ihrem musikalischen Berater Claudio Oesele. Für die beiden begeisterten Musikarchäologen wurde dies vielmehr zum Ausgangspunkt des zweiten Albums aus Cecilias originärem CD-Konzept: Wir entdecken die verborgenen Seiten berühmter Komponisten. Natürlich hätte La Bartoli ebenso gut die beliebten Schlager aus der Feder des Opernreformators aufnehmen können. Aber warum sollte ihr nach dem überwältigenden Erfolg mit unbekannten Arien des Venezianers Antonio Vivaldi nicht eine ebensolche Pioniertat mit unbekanntem Gluck-Material gelingen?
 
In der Tat wurde The Vivaldi Album (Decca 466 569–2) zum Sünden- und Glücksfall gleichermaßen: Eine der faszinierendsten Sängerinnen unserer Zeit hatte sich mit dem hartnäckigen Virus der Entdeckerlust infiziert und Millionen ihrer weltweiten Fans gleich mit. So wie damals ganz Prag durch Mozarts geniale Oper in einen wahren “Figaro”-Taumel geriet, so versank die Musikwelt gut 200 Jahre später in einem wahren Vivaldi-Rausch, den keineswegs die 100. Aufnahme seiner “Quattro stagioni”, wohl aber die Ersteinspielung einer Reihe zu Unrecht vergessener Opernarien provoziert hatte. Und natürlich Cecilia Bartoli. Ihrer atemberaubenden Gesangstechnik, ihrer eindringlichen Gestaltung und konkurrenzlosen Virtuosität ist es schließlich zu verdanken, dass gemeinhin als langweilig und stereotyp verschrieene Arien der barocken opera seria mit ihren scheint’s unendlichen Wiederholungen zu einem Vergnügen sondergleichen wurden. Hätte Mephisto bloß Goethes Faust mit Cecilia Bartolis Vivaldi in Versuchung geführt, er hätte leichteres Spiel gehabt – schon im Studierzimmer hätte der Bücherwurm geseufzt: “Verweile doch, du Augenblick, du bist so schön!”
 
Mit ihrer Vivaldi-Tournee legte Cecilia Bartoli den Grundstein für eine der erfolgreichsten klassischen Alben überhaupt. Neben ausverkauften Häusern und den weltweit fast 500.000 verkauften Exemplaren regnete es Preise und Auszeichnungen für die späte Wiedergutmachung an Antonio Vivaldis Vokalwerk: Diapason d’Or 2000 und Grammophone Award 2001, dazu der Echo Klassik des Jahres 2000. Ihren Auftritt bei der diesjährigen “Echo Klassik Gala” – natürlich mit einer Gluck-Arie – am 30. September im ZDF darf man getrost als gutes Omen für die längst überfällige Gluck-Renaissance werten. Getreu dem Motto “Steter Tropfen höhlt den Stein” verwandelte die Sängerin ihre Vivaldi-Programme nach und nach in Vivaldi & Gluck-Programme, um ihrem Publikum die Vielfalt und Schönheit einer bis heute nahezu vergessenen Musik nahe zu bringen. Was als Experiment begann, endete binnen kurzem als Triumph: Die Begeisterung für Glucks Arien standen derjenigen für Antonio Vivaldis Musik in nichts nach.
 
Jetzt lädt Cecilia Bartoli auch auf CD ein, den Komponisten Christoph Willibald Gluck neu zu entdecken. “Diese Musik hat so viel Kraft! Ich freue mich, meine Gefühle, die ich beim ersten Sehen und Singen dieser Musik empfand, mit dem Publikum teilen zu dürfen.” Nicht Orfeo, Alceste, Iphigénie oder Armide heißen ihre Rollen, sondern Vitellia, Atalanta, Fulvia oder Berenice. Allen gemeinsam ist (neben dem Komponisten natürlich) der Librettist, der Italiener Pietro Metastasio. Und ohne zu übertreiben, muss man den Wiener Hofdichter als einen der berühmtesten Textdichter der gesamten Musikgeschichte bezeichnen. Mit seinen Vorlagen feierten nicht nur Vivaldi, Händel, Haydn und Mozart Triumphe, auch dem jungen Komponisten Gluck ebneten sie zwischen Neapel, Prag und Wien den Weg zu Anerkennung und Ruhm. Und es verwundert keineswegs, dass beispielsweise Mozart eine seiner schönsten musikalischen Anregungen Christoph Willibald Glucks unterschätztem Frühwerk “Il Parnaso confuso” verdankt. Bartoli: “Sicher griff Mozart auf jene Sprache zurück, die Haydn und Gluck in unterschiedlichen Bereichen geschaffen hatten. ‘Di questa cetra’ hat dieselbe Stimmung wie etwa Susannas berühmte Arie ‘Deh vieni, non tardar’, aber die Arie von Gluck entstand gut 20 Jahre früher.”
 
Wie schon beim Vivaldi-Album ist es die musikalische und interpretatorische Viefalt, welche den besonderen Reiz des Gluck-Albums ausmacht: Hochdramatische Arien, gespickt mit virtuosen Koloraturen, wechseln mit getragen-gefühlvollen Liebesklagen. Manche der Arien seien, schwärmt Cecilia Bartoli, “in technischer Hinsicht unglaublich anspruchsvoll. ‘Se mai senti’ (aus ‘La clemenza di Tito’) zum Beispiel. Man muss sehr lange ‘fiati’ (Atemzüge) machen und ungeheure melodische Sprünge bewältigen, die beinahe die Grenzen des Stimmumfangs sprengen”. Man höre eben sofort, warum Caffarelli, für den die Arie geschrieben wurde, einer der führenden Kastraten des gesamten 18. Jahrhunderts war. Auf der anderen Seite komponierte Gluck nichts Unmögliches. Bartoli bestätigt: “In einer Arie wie zum Beispiel ‘Quel chiaro rio’ komponierte er die Koloraturen aus reiner Freude am Spiel mit der Stimme: Es entsteht ein beständiges Wechselspiel zwischen poetischen Metaphern und Musik.”
 
Wer da noch immer Zweifel an der Ebenbürtigkeit von Vivaldis und Glucks Vokalmusik hegt, der sei auf einen kleinen, aber feinen musikhistorischen Zufall verwiesen. Ein letzter Anstoß für Gluck, erzählt Cecilia Bartoli: “Es hat mich sehr überrascht zu erfahren, dass Gluck einige Monate in Prag verbrachte. Exakt zu der Zeit, von der wir wissen, dass dort Opern von Antonio Vivaldi aufgeführt wurden.” Wenn das kein Glücksstern für Cecilia Bartolis neuen Gluck ist.

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