Charles Lloyd | News | Der erste Rock-Dissident des Jazz

Der erste Rock-Dissident des Jazz

14.02.2001
Charles Lloyds sechstes ECM-Album “Voice in the Night” ist für den in Memphis geborenen und in Kalifornien lebenden Saxophonisten sowohl ein Aufbruch zu neuen Ufern als auch eine Rückkehr zu Altvertrautem. Er stellt zum einen neue Kompositionen vor, präsentiert andererseits aber auch einige seiner alten Favoriten.
Er erneuert alte Freundschaften und knüpft zugleich neue Bande. Der Einfachheit halber könnte man “Voice In The Night” auch als ein “All-Star-Projekt” bezeichnen. Aber damit wäre noch lange nichts über das wunderbar inspirierte und kommunikative Zusammenspiel der vier Musiker gesagt, das dieses Album zu einem Meisterwerk macht.
 
Bisher haben alle Platten, die Lloyd seit seinem “Comeback” vorlegte, eine dezidiert skandinavische Komponente besessen. Was nicht weiter verwunderlich ist, wenn man bedenkt, daß das Quartett, das Lloyd in den 60er Jahren unterhielt, besonders viele Anhänger im hohen Norden Europas fand. Außerdem hat der Ideenaustausch zwischen dem Saxophonisten und seinem schwedischen Pianisten Bobo Stenson seit dem 1989er Album “Fish Out Of Water” eine zentrale Rolle in der Musik von Charles Lloyd gespielt. Dennoch war nun die Zeit für eine Kursänderung reif. Denn “Voice In The Night” kann als Lloyds erstes amerkanisches Album seit geraumer Zeit bezeichnet werden. Auch wenn Bassist Dave Holland nominell noch immer Engländer ist und seine Wurzeln in Wolverhampton hat, gibt er selbst unumwunden zu, daß in den drei Jahrzehnten, die vergangen sind, seit er den Atlantik überquerte, um zur Band von Miles Davis zu stoßen, “tatsächlich eine Amerikanisierung stattgefunden hat”. So ist es im Grunde also eine amerikanische Band, die Lloyd hier um sich versammelt hat und mit der in New York – ein weiteres Novum – ins Studio ging.
 
Den Anstoß für diese Platte gab Lloyd seine weitzurückreichende Zusamenarbeit mit Billy Higgins. Higgins und Lloyd trafen schon in den mittfünfziger Jahren, als der Saxophonist an der University of Southern California gerade sein Musikexamen machte, das erste Mal aufeinander. Sie spielten mit anderen Freunden wie Ornette Coleman, Don Cherry, Scott LaFaro und Eric Dolphy in den Jazzclubs von Los Angeles. Higgins schloß sich bekanntlich Ornette und Cherry an, als diese zur Ostküste zogen, und war Mitglied des Geschichte machenden Ornette Coleman Quartet. Lloyd und Higgins sind über all die Jahre Freunde geblieben und haben zuletzt 1994 als Mitglieder der Acoustic Masters zusammengearbeitet (die andere Hälfte waren Pianist Cedar Walton und Bassist Buster Williams). Außerdem widmete Lloyd sein letztes Album “Canto” Billy Higgins, weil dieser sich damals gerade von einer schweren Operation erholte.
 
Auf einem ECM-Album tauchte Billy Higgins das letzte Mal 1983 auf: im Trio mit Pat Metheny und Charlie Haden spielte er seinerzeit “Rejoicing” ein. Darüber hinaus arbeitete der Schlagzeuger im Laufe seiner Karriere mit John Coltrane, Thelonious Monk, Sonny Rollins, Cecil Taylor, Art Pepper, Lee Morgan, Zoot Sims, Dexter Gordon, Jackie McLean, Wayne Shorter, Joe Henderson, David Murray, Hank Jones, Randy Weston und Dutzenden weiterer Jazzgrößen zusammen. “Die Flexibilität, die nötig ist, um mit so vielen führenden Stilisten zu arbeiten, ist mehr als offensichtlich”, meinte der britische Jazzkritiker Brian Priestly. “Aber noch mehr reflektiert dies sein Reaktionsvermögen, das in seinem Spiel jederzeit präsent ist. Der tänzelnde Puls seiner Becken ist hypnotisierend genug, um jede Gruppe, bei der er Mitglied ist, bis an die Grenzen ihres Könnens voranzutreiben.”
 
In den frühen 60er Jahren, als Lloyd noch der musikalische Leiter von Chico Hamiltons Gruppe war, holte er den aufregenden ungarischen Gitarristen Gabor Szabo in die Band und präsentierte ihn auch auf “Of Course, Of Course”, einem der ersten Alben, die Lloyd unter eigenem Namen veröffentlichte. Lloyd und Szabo hatten einen besonders enges Verhältnis und waren in der Lage, sich gegenseitig zu immer neuen Höchstleistungen anzuspornen. Ein junger Gitarrist, der sich diese frühen Aufnahmen sehr genau anhörte, war John Abercrombie. Er mochte insbesonder die Art, mit der sich Szabo außerhalb der konventionellen Jazz-Phraseologie bewegte. “Gabor wagte einfach unglaublich interessante klangliche Kreuzungen”, erzählte Abercrombie einst dem “Down Beat”. “Ich hörte ihn und sagte mir danach: Auf gehts, du mußt nicht wie Barney Kessell spielen. Musik ändert sich. Du bist frei.”
 
In seinen “Vor-ECM-Tagen” war John Abercrombie für kurze Zeit auch Gitarrist des Quintetts von Hamilton und versuchte schon damals auf seine eigene, intelligente Weise die Möglichkeiten der Jazzgitarre zu erweitern. Bei verschiedenen Gelegenheiten und in verschiedenen Interviews hat er sich selbst als einen Musiker beschrieben, der “im Grunde vom frei-formalen Ornette-Coleman-Stil” geprägt ist und als moderner Jazztraditionalist zugleich in der Tradition Charlie Christians, Tal Farlows und Jim Halls (“Als ich das erste Mal Jim Hall – mit Sonny Rollins – hörte, war es, als würde eine große Türe weit aufgestoßen.”) spielt. Aber auch Saxophonisten beeinflußten ihn von Anfang an: Charlie Parker, der Coltrane des legendären Miles Davis Quintetts, Wayne Shorter und Charles Lloyd. “Mich faszinierten schon immer Saxophonisten, die lange Phrasen in einem einzigen Atemzug spielen konnten. Bei Charles Lloyd und Coltrane flippte ich jedesmal aus, weil sie diese langen Legato-Bögen draufhatten…”
 
Die Schneidigkeit von Abercrombies Spielweise auf “Voice In The Night” hat einige Hörer bereits zu Vergleichen mit “Timeless”, seinem ECM-Debütalbum, verleitet. Lloyd genießt einfach seine Gesellschaft und gibt ihm reichlich Raum für Soli – wie bei der langen Gitarren-Intro in dem unwiderstehlich ins Ohr gehenden Stück “Doroteas Studio”. Das Fehlen eines Pianos gibt dem Saxophonisten auf diesem Album auch mehr Freiheit bei der eigenen Phrasierung und Intonation. Abercrombie steckt gerade in einer sehr beschäftigungsreichen und kreativen Phase. Erst kürzlich befand er sich mit Kenny Wheelers “Angel Song”-Quartett auf Tournee, wo er für Bill Frisell eingesprungen war. Bereits aufgenommen ist das Album “Speak Easy”, das Abercrombies Orgel-Trio mit Dan Wall und Adam Nussbaum sowie den Gästen Kenny Wheeler, Joe Lovano und Mark Feldman präsentiert, und noch dieses Jahr bei ECM erscheinen wird.
 
Dave Holland, der mit John Abercrombie immer noch im Gateway-Trio zusammenarbeitet, hat verschiedentlich mit Charles Lloyd auf Festivals zusammengespielt. Er war auch maßgeblich an zwei der erfolgreichsten ECM-Einspielungen jüngeren Datums beteiligt: dem bereits erwähnten Wheeler-Album “Angel Song” und “Thimar” (), einem aufregenden Album, auf dem er im Trio mit Anouar Brahem und John Surman Jazz mit arabischer Musik verknüpft. Beide Alben wurden großzügig mit Preisen und Ehrungen überschüttet; genauso wie Hollands eigene, für einen Grammy nominierte Quintett-Einspielung “Points Of View”. Eine neue Scheibe des Bassisten ist bereits in Vorbereitung.
 
Das für “Voice In The Night” ausgewählte musikalische Material verfügt über eine große Bandbreite. Das Titelstück kann man ohne weiteres als eine der besten Kompositionen bezeichnen, die Lloyd je geschrieben hat, und unterstreicht vor allem die elegischen Qualitäten des Saxophons. “Die Ballade ist einer von Lloyds Lieblingsspielplätzen”, meint “Down Beat”-Schreiber Josef Woodward. "Da kann er der angeborenen Introspektion hauchiger, langer Töne, schnellen Arpeggio-Figuren und stimmähnlichen Phrasierungen freien Ausdruck geben. Er bewegt sich natürlich und eloquent in der sich langsam entfaltenden und weitläufigen Welt von “Requiem” und “Voice In The Night”. Dies ist keine matte Zwei-Drinks-nach-Mitternacht-Stimme, sondern eine Stimme von ruhiger Aufgewecktheit, die aus dem Stegreif zu energischen Attacken übergehen kann." Dann gibt es da noch das “rasante musikalische Wortgefecht” von “Homage”: "Als junger Mann bahnte sich Lloyd seinen eigenen Weg und legte sich eine einzigartige, originelle Stimme zu. Er selbst nennt sich heute einen “jungen Alten”. Dessen ungeachtet scheut er sich nicht, auf die Ursprünge seiner Wurzeln hinzuweisen. In “Homage” können wir Facetten von Lloyds Ahnen und Mentoren entdecken – Robert Johnson, Charlie Parker, Billie Holiday, Coleman Hawkins, John Coltrane, Lester Young… und die Liste ließe sich noch verlängern."
 
Zwei der auf diesem Album zu hörenden Kompositionen sind auch Zeugnis von Lloyds eigener Vergangenheit. “Island Blues” war ein Renner des Quartetts, in dem er Mitte der 60er Jahre die Talente von Keith Jarrett und Jack DeJohnette der Allgemeinheit vorstellte. Außerdem wagt sich das Quartett auf “Voice In The Night” an eines der bekanntesten (und beliebtesten) Lloyd-Stücke aller Zeiten heran: an “Forest Flower”. Ursprünglich das Titelstück jenes Atlantic-Albums, das seinen Auftritt beim 1966er “Monterey Jazz Festival” dokumentierte, erwarb sich “Forest Flower” Ruhm als eines der allerersten Jazzalben, die über eine Million Mal verkauft wurden. Bei den damals gerade aufkommenden Kurzwellensendern erfreute sich das Stück großer Beliebtheit und es verhalf dem Quartett auch, zur Überraschung seiner Mitglieder, zum Eintritt in Rockkreise: Im “Fillmore West” in San Francisco spielten das Quartett beispielsweise schon lange bevor Miles dort auftreten durfte in einem Showcase mit Jimi Hendrix, Janis Joplin, Cream, Greatful Dead und Jefferson Airplane. Die neue Gruppe findet indes neue Ansätze bei ihrer Interpreattion von “Forest Flower”, jedoch ohne dabei des Stückes sprudelnden Sinn für Melodie und seinen essentiellen Elan zu opfern.
 
Daß Lloyd seit den glücklichen “Fillmore West”-Tagen zumindest mit einem Ohr immer mit der Rock- und Popwelt verbunden war, wird hier durch die überraschende Präsentation von “God Give Me Strength” deutlich. Dieses Stück entstammt dem Album, das erst kürzlich der Kollaboration von Elvis Costello und Burt Bacharach entsprang. Die Lloyd-Band macht diesen Song zu einem gospel-inspirierten Hoffnungsaufruf.
 
Das Album endet mit einem Standard; übrigens dem ersten Standard, den Lloyd seit seinem Wiederauftauchen bei ECM eingespielt hat. Es ist eine dynamische Interpretation von Billy Strayhorns Komposition “A Flower Is A Lovesome Thing”, die zuvor durch Aufnahmen von Duke Ellington, Johnny Hodges, Ella Fitzgerald, Stéphane Grappelli, Archie Shepp, Elvin Jones, Joe Henderson und andere, sowie natürlich auch durch Strayhorn selbst unsterblich gemacht wurde. Lloyds Interpretation findet ihren Platz unter den besten dieser Aufnahmen.
 
“Das wichtigste Ereignis auf dem Gebiet des Tenorsaxophons war in den 90er Jahren die Wiederkehr von Charles Lloyd”, behauptet das amerikanische Magazin “Stereophile”. “Kein anderer Tenorsaxophonist hat sich so kühn und frei in tonales Neuland vorgewagt. In einer einzigen Improvisation kann er von filigraner schwebender Melodienseligkeit zu sanften Klängen übergehen, die wie hingehaucht erscheinen… Lloyd findet stets den Ort, wo Kommunikation unmittelbar stattfindet.”
Das Charles Lloyd Quartet mit John Abercrombie, Billy Higgins und Marc Johnson (der Dave Holland ersetzt) ist im Februar in Deutschland, Frankreich, der Schweiz und Italien auf Tournee, um “Voice In The Night” live vorzustellen. Weitere Konzerte in Europa sind für Sommer 1999 in Vorbereitung.
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