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Chris Potter

Chris Potter – die Ästhetik der Überraschung

Chris Potter
© DI PERRI / ECM RECORDS
20.04.2017
Auf seinem dritten ECM-Album als Leader präsentiert Chris Potter ein neues akustisches Quartett, das unbefangen rhapsodische Melodien mit kraftvollen Rhythmen verquickt. Bestückt hat er die Band mit hervorragenden Musikern, die man von vielen New Yorker ECM-Aufnahmen der letzten zehn Jahre kennt: Keyboarder David Virelles, Bassist Joe Martin und Schlagzeuger Marcus Gilmore. Seine Vielseitigkeit zeigt Potter auf “The Dreamer Is The Dream” wahlweise auf dem Tenorsaxophon – auf dem er zu einem der am meisten bewunderten Spieler seiner Generation avanciert ist -, dem Sopransax und der Bassklarinette. Potter ist ein Künstler, der seine “beträchtliche Technik stets in den Dienst der Musik stellt und nicht für Spektakel verschwendet”, hieß es einmal im Magazin The New Yorker. Wie auf jedem seiner Alben entwickelt der Saxophonist in seinen Kompositionen auch diesmal überraschende Texturen und Stimmungen.
Bevor das Quartett “The Dreamer Is The Dream” in den New Yorker Avatar Studios aufnahm, absolvierte es eine Reihe von Live-Auftritten und verbrachte zusätzlich einige Tage in der Schweiz, um das Material durchzugehen und vorzuproduzieren. Als man sich dann in den Avatar Studios wieder versammelte, floss die Musik nur so aus ihnen heraus.
Produzent Manfred Eicher half schließlich noch dabei, das Endergebnis zu formen. “Als Musiker kann man sich leicht im Dickicht der Dinge verlieren”, meint Potter. “Aber Manfred sieht den Wald und nicht nur die Bäume. Er hat ein wirkliches Gespür für das große Ganze – für Stimmungen, Dichte, die Geschichte eines Albums. Ich habe mit ihm nun schon eine Menge Platten gemacht, und ich weiß das synergetische Geben und Nehmen mit ihm immer mehr zu schätzen.”
“Die generationenübergreifende Mischung von Persönlichkeiten dieses Quartetts ist etwas Besonderes”, sagt Potter. “Joe Martin kenne ich am längtsen – wir traten in den 90ern in denselben New Yorker Clubs auf. Abgesehen davon, dass er immer den richtigen Ton spielt, hat er diese sehr fokussierte, überlegte Herangehensweise auf dem Bass, sehr klar und unterstützend – er ist das Fundament der Band. Das Quartett hat eine große dynamische Bandbreite, agiert aber auch kontrollierter, was mir ermöglicht, auf eine bedachtere Art zu spielen. Joe hat daran großen Anteil.”
“Marcus ist ein sehr eigenwilliger Schlagzeuger”, fährt Potter fort. "Er spielt nicht sensationsheischend, sondern subtil, detailfreudig und sehr musikalisch. Er hat seine eigene Art zu spielen und scheint sich alle sechs Monate sprunghaft zu entwickeln. David hat als Pianist seine eigene Nische gefunden. Obwohl er auf Kuba aufwuchs, spielt er nicht auf eine stereotype lateinamerikanische Art. Er hat die Rhythmen der kubanischen Folklore ausführlich studiert, aber sich ebenso sehr mit Avantgarde-Jazz auseinandergesetzt. Er spielt mit Henry Threadgill, aber man kann ihn auch dabei erwischen, wie er an einer Etüde von Ligeti arbeitet. Die rhythmische Finesse in Davids Spiel ist einfach außerordentlich. Und die Art, wie David und Marcus rhythmisch interagieren, hat einen generationstypischen Charakter – es ist ihr eigenes Ding. Man kann das nur schwer in Worte fassen, aber eine ähnliche Verbindung gibt es auch zwischen mir und Joe. Unsere Generation - mit Leuten wie Brad Mehldau, Joshua Redman, Kurt Rosenwinkel – hat ihr eigenes Empfinden, ihr eigenes rhythmisches Gravitationszentrum. Die Generation von Marcus und David baut auf dem auf, was wir machten, so wie wir auf dem aufbauten, was die Generation vor uns gemacht hatte. Das ist eine Herausforderung- und inspirierend.”
Wenn er komponiert befindet sich Potter, wie er sagt, oft in einem “traumähnlichen Zustand”. “Heart In Hand”, “Memory And Desire” und das Titelstück des Albums entstanden bei solchen frei-assoziativen Schreibsessions. Andere Nummern weisen indische (“Yasodhara”) oder afrikanische (“Ilimba”) Einflüsse auf. Potter versucht auf jedem Album neue Ansätze zu finden. “Eine der Herausforderungen im Jazz ist, dass wir uns fragen müssen, wie wohl wir uns dabei fühlen, wenn wir auf eine andere Weise arbeiten als beim vorherigen Mal – und dann darüber hinausgehen”, sagt er. “Ich versuche immer im Hinterkopf zu haben, dass die ursprüngliche und kostbarste Eigenschaft des Jazz die Ästhetik der Überraschung ist, nicht nur für das Publikum, sondern auch für den Künstler. Es ist die Kunst, aus dem Stegreif Ideen zu entwickeln, glückliche Zufälle zu nutzen und eine Geschichte während des Spielens zu entfalten. Darin liegt die Magie dieser Musik.”

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