Friedrich Gulda | News | Das Genie und sein Erbe

Das Genie und sein Erbe

26.09.2007
Auf Diskussionen um das Für und Wieder der Authentizität wollte sich Friedrich Gulda gar nicht erst einlassen. Ihm ging es um die Kunst an sich, die in einem Werk wie dem “Wohltemperierten Klavier” kulminierte und die letztlich sich durch jedes Instrument ausdrücken kann, Hauptsache der Interpret nimmt sie ernst. So stellte er seiner Einspielung des Zyklus' einige grundlegende Gedanken voran, die unter anderem anmerkten, “dass Bach selbst in fast jedem Fall die Grenzen des jeweiligen Instruments als beengend empfand und daher entweder, dem Geist seiner Zeit entsprechend, die Wahl der Intelligenz und ‘Diskretion’ des Spieler überließ oder aber (und dies erscheint mir die wichtigere, dem Genie Bachs gemäße Konsequenz zu sein) von Vornherein auf die Angabe des gewünschten ‘Claviers’ verzichtete, weil er zu der Ansicht neigte, das kein von Menschenhand gefertigter, mit Saiten oder Pfeifen bestückter Kasten jemals der göttlichen Seele der Musik ganz Genüge tun könne”. Im Umkehrschluss bedeutete dass aber, dass auch Friedrich Gulda bestenfalls am Unerklärlichen teilhaben konnte. Aber das gelang ihm mit aller Finesse.
Für Johann Sebastian Bach war es eine besondere Demonstration seines Könnens. Bereits 1717 war er nach Köthen gezogen, um als ‘Hochfürstlicher Anhalt-Cöthenscher Capel-Meister und Directore derer Cammer Musiquen’ künstlerische und pädagogische Aufgaben am Hofe zu übernehmen. Sein Dienstherr Fürst Leopold von Anhalt war ein kunstverständiger junger Mann, der es dem Komponisten im Laufe der folgenden Jahre ermöglichte, zahlreiche zentrale Werke wie die Orchestersuiten, die “Brandenburgischen Konzerte” und eben auch den ersten Band des “Wohltemperierte Klaviers” zu verwirklichen. Dass er damit eine heimliche Revolution der abendländischen Musikwelt einleitete, war ihm wahrscheinlich gar nicht bewusst. Denn bislang verwendete man für Saiteninstrumente eine natürliche Stimmung, die jedoch die Intervalle nicht gleichmäßig unterteilte. Deshalb war es unmöglich, alle Tonarten auf einem Klavier oder Cembalo zu spielen. Bach wiederum forderte nun, wie schon drei Jahrzehnte zuvor der Organist und Theoretiker Andreas Werckmeister, die Instrumente aneinander anzugleichen, indem man die Halbtonschritte einheitlich definierte. Um die Vorzüge dieses Systems zu demonstrieren, komponierte er anno 1722 die Sammlung von Klavierpräludien und Fugen “zum Nutzen und Gebrauch der Lehr-begierigen Musicalischen Jugend, als auch derer in diesem studio schon habil seyenden besonderem Zeitvertreib.” Sie deckte den gesamten Quintenzirkel systematisch ab und wurde zu einem der Stützpfeiler moderner Pianistik.
 
Als Bach zwei Jahrzehnte noch einmal einen Band mit Klavierstudien nach demselben Muster komponierte, war die “gleichschwebende Temperatur” des “Wohltemperierten Klaviers” längst in den kreativen Alltag seiner Zeitgenossen eingeflossen. Es galt sogar als verzopft und unpopulär, sich weiterhin mit protestantischer Strenge den theoretischen Grundlagen zu widmen. Der Trend war galant und die Musik hatte dem Rokoko und der Frühaufklärung entsprechend unterhaltsam und natürlich zu sein. Das zweite Buch des “Wohltemperierten Klaviers” wurde daher weit weniger bekannt als sein Vorgänger. Das lag an der kulturellen Mode, aber auch an den Kompositionen selbst, die moderater, reifer und noch reflektierter waren als die ersten Präludien und Fugen. Für Gulda aber hatte es erst Recht seinen Reiz, dem Geheimnis des Ganzen nachzuforschen: “Man kann sagen, dass aus dem Werk unendlich viel zu lernen ist, etwa über den ‘französischen Stil’, den ‘italienischen Stil’ (beides für den, der vorurteilsfrei hören kann, keine toten Begriffe, sondern lebendig fortwirkende), deren nie ganz zu bewältigende Vereinigung: gerade darum für den deutschen Tiefsinn immer wieder besonders verlockend; oder über die längere Haltbarkeit kontrapunktischer Harmonie als Abbild einer überzeitlichen gegenüber modisch-vergänglichen Tanzformen (wer tanzt schon heute noch Menuett oder Courante, wer ist willens und imstande, deren Swing noch nachzuvollziehen?)”. Fest steht jedenfalls: Rund 35 Jahre nach der Entstehung der Aufnahmen des “Wohltemperierten Claviers” im MPS-Studio des Musik-Freaks Hans Georg Brunner-Schwer ist Friedrich Guldas Interpretation noch immer ein Phänomen, unerreicht in seiner Kraft, ein Meisterwerk aus seiner inneren Logik heraus zu verstehen.

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