Friedrich Gulda | News | Etüden mit Folgen

Etüden mit Folgen

18.10.2002
Zweimal machte sich Friedrich Gulda zu Beginn der siebziger Jahre auf den Weg in den Schwarzwald, um im Studio des Jazz-Mäzens Hans G. Brunner-Schwer das “Wohltemperierte Klavier” aufzunehmen. Es war ein riskantes Unterfangen, schließlich hatte Kollege Glenn Gould die Latte für Bach-Interpretationen beinahe unerträglich hoch gesetzt. Doch es gelang.
Für Johann Sebastian Bach war es eine besondere Demonstration seines Könnens. Bereits 1717 war er nach Köthen gezogen, um als ‘Hochfürstlicher Anhalt-Cöthenscher Capel-Meister und Directore derer Cammer Musiquen’ künstlerische und pädagogische Aufgaben am Hofe zu übernehmen. Sein Dienstherr Fürst Leopold von Anhalt war ein kunstverständiger junger Mann, der es dem Komponisten im Laufe der folgenden Jahre ermöglichte, zahlreiche zentrale Werke wie die Orchestersuiten, die “Brandenburgischen Konzerte” und eben auch den ersten Band des “Wohltemperierte Klaviers” zu verwirklichen. Dass er damit eine heimliche Revolution der abendländischen Musikwelt einleitete, war ihm wahrscheinlich gar nicht bewusst. Denn bislang verwendete man für Saiteninstrumente eine natürliche Stimmung, die jedoch die Intervalle nicht gleichmäßig unterteilte. Deshalb war es unmöglich, alle Tonarten auf einem Klavier oder Cembalo zu spielen. Bach wiederum forderte nun, wie schon drei Jahrzehnte zuvor der Organist und Theoretiker Andreas Werckmeister, die Instrumente aneinander anzugleichen, indem man die Halbtonschritte einheitlich definierte. Um die Vorzüge dieses Systems zu demonstrieren, komponierte er anno 1722 die Sammlung von Klavierpräludien und Fugen “zum Nutzen und Gebrauch der Lehr-begierigen Musicalischen Jugend, als auch derer in diesem studio schon habil seyenden besonderem Zeitvertreib.” Sie deckte den gesamten Quintenzirkel systematisch ab und wurde zu einem der Stützpfeiler moderner Pianistik.
 
Als Bach zwei Jahrzehnte noch einmal einen Band mit Klavierstudien nach demselben Muster komponierte, war die “gleichschwebende Temperatur” des “Wohltemperierten Klaviers” längst in den kreativen Alltag seiner Zeitgenossen eingeflossen. Es galt sogar als verzopft und unpopulär, sich weiterhin mit protestantischer Strenge den theoretischen Grundlagen zu widmen. Der Trend war galant und die Musik hatte dem Rokoko und der Frühaufklärung entsprechend unterhaltsam und natürlich zu sein. Das zweite Buch des “Wohltemperierten Klaviers” wurde daher weit weniger bekannt als sein Vorgänger. Das lag an der kulturellen Mode, aber auch an den Kompositionen selbst, die moderater, reifer und noch reflektierter waren als die ersten Präludien und Fugen. Trotzdem gehören die beiden Bücher zusammen, denn sie markieren den Anfang und die Perfektion einer Komponierkunst am Klavier, die ihresgleichen sucht.
 
Und aus diesem Grund ließ es auch Friedrich Gulda nicht mit der Einspielung des geläufigeren ersten Bandes bewenden. Der Pianist aus Wien, der zur Zeit der Aufnahme durch seine gattungsüberschreitenden Aktivitäten in Jazz und Klassik durchaus umstritten war, konzentrierte sich vielmehr darauf, einen Bogen zwischen den Kompositionen zu spannen. Er verzichtete auf jede Romantik und gestaltete seine Interpretationen trocken, manchmal mechanistisch abstrakt, vor allem aber präzise kontrastierend. Mit dem Spätwerk ging er dabei wesentlich moderater um als mit den bekannten Melodien des ersten Bandes. Das war provozierend, zeigte aber konsequent dem bildungsbürgerlichen Schmalz den Nachkriegszeit die lange Nase. Gulda entwarf eine Antwort auf die genialischen Höhenflüge seines Kollegen Glenn Gould und schuf auf diese Weise eine zeitlose Interpretation, die gerade in der Betonung des modellhaften Charakters der Werke weit über andere Deutungen hinausreicht.
 
Die Referenz:
 
“Fasziniernde Darstellung von ‘Das Wohltemperierte Klavier’ auf dem modernen Flügel; extem trockner und präsenter Klavierklang.” (K.Breh, Stereoplay 2/1986)

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