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Bekanntes und Besonderes

26.10.2005
Mehr als zwei Jahrzehnte sind vergangen, seit sich Gidon Kremer zum ersten Mal den “Sonaten und Partiten für Solo-Violine” von Johann Sebastian Bach mit einer Aufnahme gewidmet hat. Zwei Jahrzehnte, in denen er zur Leitfigur der internationalen Geigenszene avancierte, andere Klangwelten wie die des Argentiniers Astor Piazzolla für sich entdeckte oder mit seiner Kremerata eines der vitalsten Kammerorchester der Gegenwart schuf. Zwei Jahrzehnte aber auch, in denen er sich immer wieder mit dem Monolithen der Literatur für Violine auseinander gesetzt hat, bis er sich reif dafür fühlte, sich ihm noch einmal unter neuen Voraussetzungen vor den Mikrofonen zu widmen.
Es sind keine Kompositionen, die man wirklich beherrschen kann. Im Gegenteil: Die im Jahr 1720 vom 35jährigen Hofkapellmeister in Köthen ins Reine geschriebenen “Sei Solo a Violino senza Basso accompagnato” verändern sich ständig unter den Händen des Interpreten, selbst wenn er Gidon Kremer heißt und über mehr musikalische Erfahrung verfügt als die meisten seiner fachlichen Zeitgenossen: “Die Partitur der drei Sonaten und drei Partiten trägt in sich so viele Deutungen, dass weder ein Erzähler noch ein Ausführender dieser Vielfalt gewachsen ist”, meint der lettische Stargeiger im Vorwort zu seiner Neuaufnahme der Werke, die zwischen September 2001 und März 2002 in Lockenhaus und in Riga entstanden, und fährt fort: “Wir können nur Wegweiser sein in das Reich der ‘Infinita’. Jeder, der glaubt, sie ‘erkannt’ zu haben, erlebt (oder erzeugt) nur eine Täuschung. Die Musik Bachs enthält nämlich mehr als jeden Geständnis. Die Botschaft der ‘Sei’, die nur der Violine anvertraut ist, sehe ich als Bekenntnis ihres Erzeugers, das – wie jedes Meisterwerk – mehrdeutig ausfällt. Das Manuskript enthält jedoch schon alles. Unsere Aufgabe kann es nur sein, es (noch einmal) bescheiden und doch überzeugt einem Erklingen und Erhören zu öffnen … eine Auseinandersetzung mit ihm zu ermöglichen … Wenn das gelingt, ist ein kleiner Schritt getan. Noch viele werden folgen…”.

Für Gidon Kremer bedeutet diese Botschaft auch, sich vor allem auf die eigenen Fähigkeiten des Verständnisses und der Empfindung zu konzentrieren. Sein Bach ist der Notentext auf der einen und die Individualität auf der anderen Seite, die versuchen, eine möglichst harmonische Liaison vor dem Hintergrund einer Vielzahl bereits vorhandenen Variationen zu diesem Thema einzugehen. Seine These ist in ihrer Weise radikal, denn sie kümmert sich nicht um die Normsetzungen des Zeitgeistes, sondern schöpft vor allem aus der eigenen Vision und Verbindung mit seiner atemberaubenden, nicht aus der Ruhe zu bringenden Spieltechnik. Und diese Vorgehensweise veranlasste den Rezensenten der Wochenzeitung Die Zeit sogar zu einer geistreichen Apologie des Unzeitgemäßen: “Wie geht Kremer damit um? Wie klingt ‘Reife’ bei einem so neugierigen Musiker, und wie reagiert er auf das von historischen Quellen revolutionierte Klangbild, das für die Musik vor 1800 fast verbindlich geworden ist? Ums Letztere schert er sich gar nicht. Wer alle Phrasierungen so hören will, wie Bach sie notierte, wer Verzierungen auch da erwartet, wo Bach keine notierte (weil sich die Freiheit von selbst verstand), wer Betonungen und Tonlängen wünscht, wie sie barocker Stilistik entsprechen – der sollte diese Einspielung trotzdem hören. Es wäre grotesk, wollte man einem genialen Musiker das Gehör verweigern, nur weil er Triller von unten beginnen lässt und manche Akkorde so kurios im Zickzack bricht, wie er es einst in Moskau lernte”.

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