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Ein anderer Schubert

23.09.2005
Manchmal ist das Unbekannte im Bekannten spannender als das Neue an sich. Schuberts späte Kammermusik gehört ebenso wie das reife Schaffen seines ewigen Vorbildes Beethoven zu den visionären Kapiteln der Musikgeschichte. Es hat daher für einen Geiger und Konzeptdenker wie Gidon Kremer einen ungeheuren Reiz, scheinbar hinlänglich interpretierte Meisterstücke wie das “Streichquartett in G-Dur” aus ungewohnter Perspektive zu betrachten. So hat er beschlossen, es von dem Komponisten Victor Kissine für Orchester umarbeiten zu lassen und mit seiner Kremerata einem größeren Publikum vorzustellen. Ein gewagtes Experiment, aber eines, das gelingt.
Franz Schuberts später Kammermusikwerke nehmen einen eigenständigen Platz im Oeuvre des Komponisten ein. Mehr und mehr verlässt er die sicheren Gefilde des dominierenden Wohlklangs und wird kühner, unzeitgemäßer. Dabei fällt auf, dass er viele frühere Zweifel an gewagten musikalischen Zusammenhängen abgelegt zu haben scheint. Die profunde Sicherheit der Gestaltung, verknüpft mit harmonischem Wagemut und einer eigenwilligen Auseinandersetzung mit neuartigen Konstruktionsproblemen komplexerer Schichtungen verdichten sich zu Kompositionen, die die formalen Konventionen seiner Gegenwart hinter sich lassen. Der erste Satz des “G-Dur Streichquartetts” zum Beispiel erinnert im Aufbau an die Methodik seiner Symphonien, die ein zuerst als Einleitung gedachtes, zwischen Dur und Moll changierendes Thema behutsam vorstellen, es aber schrittweise dominieren lassen. Im ersten wie auch im langsamen Satz fallen ungewöhnliche Verknüpfungen harmonisch weit voneinander entfernter Akkordfolgen auf, die deutlich über die seinerzeit bekannten Techniken der Modulation hinaus reichen. Schubert war in dieser Hinsicht ein Querdenker, der verschiedene Modelle ausprobierte, im Falle seines letzten Streichquartetts die Ergebnisse seiner Bemühungen aber nicht mehr auf der Bühne erleben durfte. Die Uraufführung fand erst 1850 durch das Hellmesberger-Quartett statt, 22 Jahre nach dem frühen Tod des Komponisten.

 
Für Gidon Kremer hatte das G-Dur-Quartett seit langem eine besondere Bedeutung. Denn es ist nicht nur das letzte Werk dieser Gattung, das Schubert geschrieben hat, weit weniger bekannt als etwa die mit Liedern assoziierten Werke wie das “Forellenquintett” oder das “Rosamunde-Quartett”, sondern darüber hinaus ein mächtiges Opus, das mit rund 50 Minuten Länge deutlich den zeitlichen Rahmen vergleichbarer Werke seiner Zeitgenossen sprengt. Damit es für die Kremerata, das hervorragende, von Kremer 1997 ins Leben gerufene Orchester junger baltischer Musiker, eine passende Gestalt bekam, beauftragte Kremer den in Belgien lebenden Exil-Russen Victor Kissine mit einer Orchestrierung, die die Qualitäten des Ensembles ebenso wie des Werkes an sich herausstellen sollte. Es ist die erste Bearbeitung dieser Art des “G-Dur-Quartetts” überhaupt und sie wurde zu einer auffallend transparenten Transkription, die von der Kremerata unter der Leitung des Stargeigers in der Kirche des burgenländischen Lockenhaus aufgenommen wurde. Der luftige Klang dieses Raumes lässt das Orchester dabei plastisch und präsent wirken, ohne dass die dynamischen Kontraste der Komposition darunter zu leiden hätten. Es entsteht eine mitreißende Vitalität trotz des komplexen Textkorpus, so dass dem bereits 2002 mit einem Grammy ausgezeichneten Spitzenensemble ein weiteres Glanzstück der Interpretation gelingt, das dem späten Schubert unter verändertem Blickwinkel faszinierende dramatische Qualitäten abgewinnt.

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