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Seitenwege ins Neuland

29.08.2007
Natürlich ist es auch ein Luxus. Als Gidon Kremer im Jahr 1997 die Kremerata gründete, war es zum einen ein besonderes Geschenk an sich selbst, das er sich zum 50.Geburtstag leistete. Ein Jahrzehnt später jedoch zeigt sich bereits deutlich, dass er damit darüber hinaus ein wichtiges Instrument der aktuellen musikalischen Landschaft geschaffen hat. Denn die Kremerata ist nicht nur ein herausragendes Ensemble, dass sich aus den besten jungen Musikern der baltischen Heimat des Geigers zusammensetzt, sondern darüber hinaus ein aus der besonderen, kontinuierlichen Arbeit mit ihrem Leiter resultierenden Präzision organisch agierendes Kammerorchester, das auf der Suche nach Herausforderungen neue Klanggebiete betritt. In diesem  Herbst nun werden Gidon Kremer und die Kremerata ausführlich auf Konzertreise gehen. Und als Eröffnung der Saison präsentieren sie ein Programm mit zwei ungewöhnlichen sinfonischen Werken: Das eigens für das Streicherensemble umgearbeiteten Adagio aus Gustav Mahlers 10. Sinfonie und die 14. Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch.
Beides sind Werke, die an der Schwelle stehen. Gustav Mahlers 10. Sinfonie wurde nie verwirklicht. Es gab Pläne der Komponisten, sie fünfsätzig als “Dante- oder Infernosinfonie” zu konzipieren, letztendlich entstanden aber 1910 nur das “Adagio in Fis-Dur” und einige Skizzen zu einem Scherzo. Durch die ausgeprägte Chromatik ist eine eindeutige tonale Einordnung des Adagios nur schwer möglich, herbe Dissonanzen prägen das Bild, so dass die Mahlerforschung in der Regel davon ausging, darin ein Abwenden des Komponisten kurz vor seinem Tod von den Ärgernissen dieser Welt zu sehen. Uraufgeführt wurde das “Adagio” erst 1924 unter der Leitung von Franz Schalk, spätere Bearbeitungen und Fortsetzungen der 10. Sinfonie zunächst von Ernst Krenek, aber auch von Deryck Cooke sind in der Musikwissenschaft umstritten. Gidon Kremer hat sich nun mit einer neuen Bearbeitung ausschließlich für das Streichorchester an eine weitergehende Interpretation gewagt, die mehr als hundert Jahre nach Fertigstellung des Originals dem Klanggefüge eine ungewohnte, in ihrer Transparenz für viele überraschende Ordnung gibt. Dabei erweist sich die Kombination der Bearbeitung mit der Kompetenz der Kremerata als symbiotisch, denn die Energie, die das Orchester selbst in den dissonanten und schwierigen Passagen des Werkes an den Tag legt, unterstreicht deutlich die Pionierleistung Gustav Mahlers, der mit der tonalen Konzeption des “Adagios” bereits weit in der Orchestermusik der 20. Jahrhunderts vorgriff.
 
Beinahe vom Totenbett aus schrieb Dimitri Schostakowitsch seine 14. Sinfonie op.135. Zumindest musste es ihm so erscheinen, denn während ihrer Entstehung anno 1969 war er bereits wegen seines schlechten Gesundheitszustandes in ein Sanatorium eingeliefert worden. Zwar erholte er sich dann doch wieder und starb erst 1975 in Moskau, die 14. Sinfonie setzte sich trotzdem ausführlich und intensiv mit dem Thema der Vergänglichkeit auseinander. Schostakowitsch integrierte insgesamt 11 Gedichte von Federico Garcia Lorca, Guillaume Apollinaire, Rainer Maria Rilke und Wilhelm Küchelbecker in sein Werk, die er in vier Gruppen zusammenfasste und die sich thematisch mit Menschen beschäftigen, die aus dem Leben scheiden müssen. Die Musik verstand er nicht als illustrativ, sondern versuchte sie sich autonom zum Text gleichzeitig zu dem Thema entwickeln zu lassen.

Da ursprünglich vom Komponisten unterschiedlichste Perkussioninstrumente vorgesehen waren, wurde die Instrumentierung der Kremerata auf die Bedürfnisse des Werks zugeschnitten modifiziert und auch in diesem Fall erweist sich die Interpretation in ihrer Energie und Präsenz als wegweisend. Als Gesangssolisten wurden außerdem die jungen russischen Sänger Yulia Korpacheva und Fedor Kuznetsov eingeladen, Gidon Kremer und sein Orchester bei der Umsetzung zu ergänzen, und so entstand eine bewegende Aufnahme eines Werkes, das zu Schostakowitchs persönlichsten musikalischen Stellungnahmen überhaupt zählt.

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