Gustavo Dudamel | News | Wunder kosten etwas mehr

Wunder kosten etwas mehr

25.07.2007
Edicson Ruiz hat inzwischen eine Stelle gefunden. Er ist Kontrabassist der Berliner Philharmoniker und als 17jähriger der jüngste Musiker seines Instrumentes, den das Orchester jemals hatte. Acht Jahre zuvor arbeitete er noch als Packer in einem Supermarkt in Venezuela, eines von vielen Kindern auf der Schwelle des sozialen Abstiegs. Wahrscheinlich wäre es dazu auch gekommen, hätte ihm nicht ein Nachbar von einer Musikschule des venezuelischen “Sistema” erzählt. Ruiz jedenfalls machte sich auf den Weg: “Sie gaben mir eine Bratsche in die Hand und setzten mich ins Orchester. Ich hörte des Klang des Kontrabasses und dachte: Das ist mein Instrument! Ein paar Monate später steckten sie mich in das nationale Jugendorchester. Natürlich konnte ich die Stücke nicht spielen! So machen sie es immer: Sie werfen einen einfach ins kalte Wasser”. Und sie machen es nicht nur bei einigen ausgewählten Musikern, sondern bei zur Zeit 250 000 jungen Menschen in Venezuela. Es ist ein einmaliges, lang angelegtes Projekt der sozialen Förderung durch Musik und es hat bereits seinen ersten Star hervor gebracht: den Dirigenten Gustavo Dudamel.
Vieles ist außergewöhnlich an der “Fundación del Estado para el Sistema de Orchestra Juvenil e Infantil de Venezuela”, von den Menschen kurz “Sistema” genannt. Vor drei Jahrzehnten von Antonio Abreu, einem Geschäftsmann, Politiker und Organisten ins Leben gerufen, hat sich das staatliche geförderte, zunächst als soziale Hilfe angelegte Musikprogramm zu einem weltweiten Vorzeigeprojekt gemausert. Die Vorgehensweise ist unorthodox und für europäische Akademiker mehr als ungewohnt. Kinder und Jugendliche bekommen vom Staat ein Instrument in die Hand gedrückt, werden in Ensembles gesetzt und los. Sie lernen Musik über die Praxis kennen und bei nicht wenigen von ihnen entdeckt man bald eine profunde Musikalität. Daraufhin haben sie die Möglichkeit, sich in mehr als 125 Jugendorchestern im Land weiter zu bewähren und bei einem von rund 15.000 Musiklehrern Unterricht zu bekommen. Resultat: Klassisches Repertoire wird plastisch, wird Spaß, zur eigenen Erfahrung und zum Teil des Lebens. Die Motivation und Qualität dieser Orchester ist beachtlich und reicht hinein bis in die Weltelite. Ein Beispiel dafür ist das Simón Bolivar Youth Orchestra of Venezuela, das es innerhalb der vergangenen zwei Jahre geschafft hat, international nicht nur auf sich aufmerksam zu machen, sondern darüber hinaus gleich als wichtige Kraft im Konzertleben anerkannt zu werden. Das liegt zum einen an den jungen, hochmotivierten und ausgezeichneten Musikern, vor allem aber auch an seinem Dirigenten.


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Gustavo Dudamel stammt aus Barquisimento, einer Stadt  rund 350 Kilometer westlich von Caracas. Musikalisch fiel er auf, weil er schon als kleines Kind bei Festen von den Klägen um ihn herum wie gefangen war. Als Zehnjähriger begann er mit der Geige, mit Zwölf dirigierte er zum ersten Mal ein Orchester, mehr durch Zufall, denn er ersetzte einen erkrankten Kollegen: “Ich dachte einfach: ‘Das kannst du!’ Ich erinnere mich noch genau. Es war komisch, weil meine Freunde spielten und alle lachten. Aber fünf Minuten später war es anders. Sie dachten: ‘Okay, wir arbeiten. Er ist jetzt der Dirigent’. … Mit 13 war ich zweiter Dirigent des örtlichen Kammerorchesters”. Die eigentliche Ausbildung setzte erst danach ein, Dudamel ging bei Rodolfo Saglimbeni und José Antonio Abreu, dem Initiator des Sistema, in die Lehre und avancierte mit 14 zum künstlerischen Leiter des Amadeus Chamber Orchestra in seiner Heimat. Noch als Jugendlicher wurde er in die Welt geschickt, um sich zu bewähren. Er gewann den Gustav-Mahler-Dirigierwettbewerb in Bamberg, gab als 18jähriger sein Debüt mit dem Simón Bolívar Youth Orchestra Of Venezuela in der Berliner Philharmonie und wurde in Windeseile vom Geheimtipp zum angesehenen Newcomer in der internationalen Dirigentenszene. “Er ist ein Phänomen”, meinte im Januar der Kritiker der Los Angeles Times, “Man braucht keine Lektion in Musikkritik, um dieses Charisma zu erkennen … Solche Größe erlebt man nicht oft”.
 
Dudamels Debüt bei der Deutschen Grammophon war Beethoven. Die Fortsetzung erfährt die Erfolgsgeschichte nun mit der Aufnahme von Gustav Mahlers Fünfter Sinfonie. Sie ist für den Dirigenten ein besonderes Werk, schließlich hat er sie als eines der ersten großen Stücke unter der Anleitung von Claudio Abbado, einem Gast und Bewunderer des Sistema, einstudiert und außerdem damit den Wettbewerb in Bamberg gewonnen. Außerdem ist sie für jeden Orchesterkünstler eine gewaltige Gestaltungsaufgabe: “Bei diesem Werk denken alle sofort an das Adagietto. Aber für mich ist die Stellung des Satzes im Kontext des Werkes entscheidend. Man muss an die Struktur als Ganzes denken: Wie ist es möglich, dass ein Werk, das mit einem Trauermarsch beginnt, im zweiten Satz von Verzweiflung erfüllt ist, einen dritten Satz voller Freude und Glücksgefühle hat, die sich dann im Adagietto steigern und die Liebe einbeziehen, am Ende des fünften Satzes schließlich zur Hoffnung findet? Andeutungen dieser hoffnungsvollen Stimmung gibt es schon im zweiten Satz, doch dort bricht die Phrase zusammen und die Stimmung schlägt wieder in Verzweiflung um. Als die Wendung im letzten Satz wiederkehrt, lautet die Aussage: ‘Jetzt kann ich wirklich hoffen: das konnte ich vorher nicht’ Anders gesagt: Das ganze Werk nimmt eine komplexe fortschreitende Entwicklung. In Mahlers fünfter gibt es eine existentielle Suche, die sich bereits im Fanfarenrhythmus zu Anfang des Trauermarsches ankündigt, einem Echo der Eröffnung von Beethovens Fünfter”.
 
Für Gustavo Dudamel jedenfalls ist es ein Werk, das sein Leben veränderte, und deshalb steckte er auch all seine Gestaltungsenergie in eine Aufnahme, die dem Simón Bolivar Youth Orchestra of Venezuela Höchstleistungen abverlangt. Im kommenden August allerdings werden sich der Jungmaestro und sein  Ensemble mit anderem Repertoire dem deutschen Publikum vorstellen. Denn auf dem Programm stehen die “Symphonic Dances” von Leonard Bernstein und die zehnte Sinfonie von Dimitrij Schostakowitsch, eine weitere anspruchsvolle Herausforderung für die jungen Venezuelaner. Erleben kann man Dudamel und die Seinen von Leipzig bis Lübeck und Essen bis Bonn. Und vielleicht finden sich ja über die Musikbegeisterten hinaus auch mancher Politiker im Publikum wieder und lässt sich inspirieren. Schließlich muss ein Erfolgsrezept wie das Sistema nicht auf Venezuela beschränkt bleiben.

Termine Gustavo Dudamel:

mit dem Simón Bolivar Youth Orchestra of Venezuela
Programm: Beethoven – 3. Symphonie (Eroica), Bernstein – Symphonische Tänze,
Werke südamerikanischer Komponisten
21. August 2007 – Essen – Philharmonie
27. August 2007 – Bonn – Beethovenhalle
28. August 2007 – Frankfurt am Main – Alte Oper

mit dem Simón Bolivar Youth Orchestra of Venezuela
Programm: Mahler – 5. Symphonie, Bernstein – Symphonische Tänze,
Werke südamerikanischer Komponisten
22. August 2007 – Lübeck – Musik- und Kongresshalle (Schleswig Holstein Musikfestival)
24. August 2007 – Leipzig – Gewandhaus
25. August 2007 – Dresden – Semperoper

mit der Staatskapelle Berlin und Daniel Barenboim (Klavier)
Programm: B.Bartók – Klavierkonzert No.1, L.v.Beethoven – Sinfonie No.7
16. September 2007 – Berlin – Staatsoper Unter den Linden
17. September 2007 – Berlin – Philharmonie

mit dem Gewandhausorchester Leipzig und Han-Na Chang (Cello)
Programm: A.Dvorák – Cello Konzert, S.Rachmaninov – Sinfonie No.3
08. Oktober 2007 – Leipzig – Gewandhaus

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