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Verkannte Poeten

20.09.2006
Niccoló Paganinis Geige wurde von manchen Zeitgenossen auch scherzhaft anerkennend “Die Kanone” genannt, weil es schlicht unfassbar war, welche Klangfülle der Meister auf ihr entfesseln konnte. Dabei ging es nicht nur um die spieltechnische Virtuosität, sondern auch um Fragen des Tons, der Phrasierung, der dramatischen Darstellung, die in der historischen Rückschau gerne vergessen werden, weil Paganini diesbezüglich selbst wenig Notizen machte und auch die Zuhörer vor allem von seiner Geläufigkeit fasziniert waren. Für Hilary Hahn fehlt mit dieser Reduktion auf den wirkungsvollen Bühnenkünstler aber ein wesentlicher, lyrischer Bestandteil von dessen musikalischer Persönlichkeit, auf deren Spur sie sich mit ihrem aktuellen Album begibt. Paganini, der Poet, steht ebenso wie sein Zeitgenosse Louis Spohr auf dem Programm, eine Kombination selten aufgenommener Werke, die umso brillanter erscheinen, wenn eine Jahrhundertgeigerin wie Hahn sich ihrer annimmt.
Sowohl Paganinis erstes wie auch Spohrs achtes Violinkonzert gehört bereits seit längerem zu den Favoriten in Hilary Hahns Repertoire. Trotzdem wartete sie ab, bis sie sich den Werken mit einer Aufnahme widmete. Denn sie wollte erst den Wunderkindrummel hinter sich bringen, damit die Kompositionen unter diesem Aspekt  nicht für zu gehaltlos befunden würden: “Für mich liegt das Wesen dieser Musik in ihrer sanglichen, opernhaften Qualität”, erklärte sie in einem Interview und fuhr fort: “das kann auch violinistisch sein, aber in einer Weise, die dem sanglichen Element im Klangspektrum der Geige entgegenkommt. Diese Seite der Musik geht leicht verloren, wenn man ihre emotionale Kraft zugunsten von Effekthascherei vernachlässigt. Ich habe versucht, mich dem Paganini-Konzert aus einer melodischen Perspektive zu nähern: Statt die technisch herausfordernden Abschnitte zu betonen und die melodischen Teile nur als Bindeglieder zu benutzen, versuche ich, Virtuosität als Verzierung eines sehr lyrischen, sangbaren Werkes einzusetzen. Mit anderen Worten: Die Technik wird zweitrangig. Äußeren Glanz finde ich nicht wichtig in der Musik. Also sehe ich auch keinen Grund, diese Seite herauszukehren. Andererseits messe ich aber technischer und virtuoser Präzision viel Bedeutung bei – mein Ziel ist dabei, alles so klar und organisch zu gestalten, dann niemand merkt, wie schwierig ein Abschnitt wirklich ist. Das heißt, die Technik sollte so gut wie möglich sein, so dass sie die Musik bereichert, aber nicht erdrückt. Das gilt für jedes Werk.”
 
So kann natürlich nur jemand reden, der bereits die technischen Grenzen seines Instrumentes weitgehend hinter sich gelassen hat. Hilary Hahn, die vor rund einem Jahrzehnt die Fachwelt in Erstaunen und das Publikum in Verzückung versetzte, als sie im Teenageralter Bachs “Partiten für Solovioline” in Referenzqualität aufnahm, hat sich seitdem zu einer der wichtigsten Geigerinnen der Gegenwart entwickelt. Ihr Ton ist betörend, die musikalische Kontrolle atemberaubend, zugleich schafft es die Amerikanerin, bei allem Anspruch natürlich und authentisch zu bleiben. Und das ist schließlich auch das Schlüsselwort für die klangliche Erforschung der Konzerte von Paganini und Spohr: Es geht um Authentizität, nicht im Sinne der historischen Aufführungspraxis, sondern der individuellen Aneignung eines Werkes. Wirkt Paganinis Konzert, wenn es vordergründig gespielt wird, ein wenig ein Jahrmarktsmozart mit artistischen Einlagen, avanciert er unter Hahns Ägide zum Meisterwerk der melodischen Gestaltung. Wird Spohrs Pendant in der Praxis häufig als Bewährungsprobe für besonders begabte Musikstudenten verstanden, bekommt es durch die emotional ehrliche Interpretation eine melancholische, stellenweise dramatische Tiefe, die es in der ersten Liga der frühromantischen Konzertliteratur verankert. So ist Hilary Hahn im Oktober 2005 und Februar 2006 in Stockholm gemeinsam mit den Schwedischen Radiosymphonikern unter der Leitung von Eiji Oue ein doppeltes Kunststück gelungen: Sie entledigt zwei großartige Konzertwerke ihres interpretationsgeschichtlich hinderlichen Ballastes und präsentiert sich im gleichen Atemzug als poetische Virtuosin der Weltklasse mit Freude an unkonventionellem Repertoire.

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