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Inge Jens

Die Frau im Schatten

09.01.2004
Eigentlich wollte sie nicht: “Ich sollte immer meine Erinnerungen schreiben”, meinte Katia Mann und fuhr fort: “Dazu sage ich: in dieser Familie muss es einen Menschen geben, der nicht schreibt”. Trotzdem wurde sie zu “Meine ungeschriebenen Memoiren” überredet und ist seitdem eine spannende Figur für die Forschung. Anlässlich ihres 110 Geburtstages, den sie im vergangenen Jahr gefeiert hätte, veröffentlichte das Autorenehepaar Inge und Walter Jens die Biografie “Frau Thomas Mann”. Und haben sie außerdem für die Deutsche Grammophon Literatur im Studio gelesen.
Katia Mann, geborene Pringsheim, war eine humorvolle Frau, die sich selbst nicht ernster nahm als nötig: “Meine Mutter erwartete das vierte Kind, und als es dann kam, auch noch zu früh, waren es zwei, mein Zwillingsbruder und, ganz unerwartet, ich. Niemand war da außer der Bauersfrau, und es gab ja kein Telefon. Da sagte sie: Jessas! Es komm noch eins! Und das war dann ich. Als mein Vater an dem Tag nach Hause kam, wurde er von der Bauersfrau aufgeregt empfangen: Herr Doktor! Herr Doktor! Zwillinge san angekommen! Ihn rührte fast der Schlag.” Das ist der Tonfall der “ungeschriebenen Memoiren”, die die fast neunzigjährige Greisin ihren Interviewern Elisabeth Plessen und Michael Mann erzählte. Es ist ein anderer Stil, als ihn rund zwei Jahrzehnte später die Eheleute Jens bevorzugten. Selbst Literaten und im Geiste verwandt, forschten sie in Archiven und Briefwechseln der ungewöhnlichen Frau hinterher und fanden zahlreiche Dokumente, die noch nie zuvor der Öffentlichkeit zugänglich waren. Darunter befand sich unter anderem das “Kinderbüchlein” der Hedwig Dohm, Katia Pringsheims Mutter, die als Frauenrechtlerin und Schriftstellerin ausführlich ihre Erfahrungen mit den eigenen Sprösslingen festhielt. Überhaupt stellt sich in “Frau Thomas Mann” die Gattin hinter dem Genius als außergewöhnlich souverän und in den Fußstapfen ihrer Mutter selbstbewusst agierend dar.
 
Trotzdem bleibt ein schaler Nachgeschmack der Liaison. Denn oberflächlich betrachtet gab Katia Pringsheim zugunsten des spröden Thomas ihre persönlichen Träume auf. Immerhin war sie eine der ersten Abiturientinnen Bayerns, eine mathematisch begabte Frau, die als Studentin durchaus ihren Doktorhut hätte bekommen können. Sie hielt sich jedoch im Hintergrund, wirkte als Mutter der Mann’schen Kinder und Organisatorin der Mann’schen Karriere. Aus eigener Anschauung mit diesen Fragestellungen vertraut, spürten Inge und Walter Jens diesen Widersprüchen nach und haben ein buntes und spannendes Panoptikum der ausgehenden großbürgerlichen Epoche entworfen. Und mit einer Mischung aus Anteilnahme und Lakonik widmen sie sich über sechs Stunden hinweg dem Thema vor den Mikrofonen. Beide lesen mit Stimmen, denen man anmerkt, bereits ein Leben erlebt zu haben, und verleihen den eingearbeiteten Quellen und eigenen Beurteilungen auf diese Weise eine besondere Authentizität der Mitwisserschaft, die den Nachgeborenen kaum möglich wäre. “Frau Thomas Mann” ist daher auf doppelte Weise eine Zeitdokument, inhaltlich als Nachvollzog eines erlebnisreichen Lebenswegs und interpretatorisch als Verweis auf die eigene literarisch-gesellschaftliche Bedeutung.

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