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John Scofield: Der Meister der musikalischen Schizophrenie

14.02.2001
Manche Jazzmusiker geben sich damit zufrieden, ihre Kreise in den immer gleichen Bahnen zu ziehen, ohne sich von einem Album zum nächsten großartig zu verändern. Nicht so John Scofield. Der einflußreiche Gitarrist sieht Herausforderungen gelassen entgegen – er wächst an ihnen und vermeidet Berechenbarkeit.
Zu seinem sich stetig weiter entwickelnden Stil und den radikalen Umbrüchen in seiner Diskographie befragt, zuckt Scofield mit den Achseln: “All das bin ich. Jede Aufnahme, die ich mache, ist repräsentativ für die Musik, die ich zum jeweiligen Zeitpunkt fühle. Ich finde stets die größte Befriedigung und Ehrlichkeit genau dann, wenn die musikalischen Kategorien und Genres an den Kanten einfach verwischen.” Nach zwei Alben, die Scofield mit jungen Musikern der progressiven Groove- und Funk-Szene präsentierten, kehrt er nun erst einmal wieder zum “wahren Jazz” (O-Ton Scofield) zurück.
 
1999 aufgenommen, favorisierte “Bump” eine rauhe, Groove-orientierte Mischung aus Jazz, Funk und Rock. “Works For Me” hingegen zeigt einen Scofield, der ein lupenreines Jazz-Quintett leitet: mit Kenny Garrett am Altsax, Brad Mehldau am Flügel, Christian McBride am Kontrabass und Billy Higgins am Schlagzeug. Von der Ruhe, die von “Mrs. Scofield’s Waltz” ausgeht, bis zum heftig swingenden, überschäumenden “Do I Crazy?” ist “Works For Me” der Inbegriff von packendem zeitgenössischen Jazz mit Ecken und Kanten und jeder Menge Swing. Wie etwa in der raffinierten Nummer “Not You Again”, die auf den Changes des bekannten Standards “There’ll Never Be Another You” beruht.
 
Seit der Entstehung des Bebop in den Mittvierzigern waren die Harmonien bekannter Standards stets eine Inspirationsquelle für Jazzkomponisten. Genau wie Miles Davis, der den Standard “If You Could See Me Now” im Kopf hatte, als er “Half Nelson” schrieb, benutzt Scofield “There’ll Never Be Another You”, um sein eigenes Statement zu formulieren. Dennoch spielt Scofield auf “Works For Me” keinerlei Standards. Jeder Song ist ein Original und Scofields Bandbreite als Komponist ist unüberhörbar.
 
“Mrs. Scofield’s Waltz”, ein nachdenkliches Stück, das mit einem besonders lyrischen Scofield aufwartet, ist der Ehefrau des Gitarristen gewidmet. Warm und liebevoll, hat der Song eine friedvolle Atmosphäre. Ein Sinn für ruhigere Momente definiert auch “Love You Long Time”, ein Midtempo-Stück mit einladender Melodie. “Heel To Toe” wiederum ist der bluesigste Titel der CD, während das vertrackte “Hive” stellenweise dem Songbook Ornette Colemans entliehen zu sein scheint. Das faszinierende “Loose Canon” unterstreicht Scofields Vorliebe für rhythmischen Hooklines. Wer mit Scofields diskographischem Werk nicht vertraut ist, mag überrascht sein, daß er so Funk- und Groove-orientierten Alben wie “A Go Go” und “Bump”, die noch dazu in der Jazz- und Nicht-Jazz-Welt für einhellige Begeisterung sorgten, ein Projekt folgen läßt, das so unprätentiösen, waschechten Jazz enthält wie “Works For Me”.
 
Wer aber Scofields Laufbahn über die Jahre verfolgt hat, weiß, daß Vielfalt zu seinen primären Merkmalen zählt. Am 26. Dezember 1951 in Dayton/Ohio geboren, begann Scofield mit elf Jahren Gitarre zu spielen und vervollkommnete sein Können am angesehenen Berklee College of Music in Boston. Im Anschluß an seine Berklee-Periode verbrachte er zwei Jahre in der Billy Cobham/George Duke Band, die eine der eindrucksvollsten Fusion-Gruppen der 70er Jahre war. Darüberhinaus verdiente sich Scofield früh seine Meriten in Ensembles von Jazzlegenden wie Charles Mingus, Chet Baker, Gerry Mulligan und Gary Burton. 1982 stieß Scofield zur Miles Davis Group, mit der in der folgenden drei Jahren die Alben “Star People”, “Decoy” und “You’re Under Arrest” aufnahm. Hatte der Gitarrist bis dahin – trotz einiger exzellenter Soloalben – noch eher einen Ruf als “musicians' musician” genossen, katapultierte ihn die Zusammenarbeit mit Miles plötzlich ins große Rampenlicht.
 
Als Leader hatte Scofield schon in den späten 70ern Aufnahmen gemacht. Eines der ersten Alben, das Scofield unter eigenem Namen veröffentlichte, war die 1979 erschienene Platte “Who’s Who?”, die den Gitarristen auf dem Cover mit seinem Spiegelbild zeigte. Schon damals verleugnete der Gitarrist seine “schizophrene” musikalische Veranlagung nicht: Neben vier funkigen Titeln, die er mit einer Fusion-Band (Kenny Kirkland – keyboards / Anthony Jackson – bass / Sammy Figueroa – percussion / Steve Jordan – drums) eingespielt hatte, präsentiert er in einer Quartettbesetzung mit Saxophonist Dave Liebman, Bassist Eddie Gomez und Schlagzeuger Billy Hart auch zwei absolut jazzige Stücke mit reichlich Spielraum für freie Improvisationen.
 
Das 1980 mit dem Bassisten Steve Swallow und dem Schlagzeuger Adam Nussbaum gegründete John Scofield Trio nahm drei fantastische Alben für Jive/Novus und das Münchener Enja-Label auf, die seitdem in der Plattensammlung von Nachwuchs-Jazzgitarristen einen Sonderplatz einnehmen: “Bar Talk”, “Shinola” und “Out Like A Light”.
 
Zwischen 1984 und 1988 nahm Scofield sechs Alben für Gramavision auf, darunter solche Klassiker des progressive Funk-Jazz wie “Electric Outlet”, “Still Warm”, “Blue Matter” und “Pick Hits Live”. In seinen Blue Note-Jahren, von 1989 bis 1995, widmete sich der Gitarrist mit großem Erfolg erst dem modernen Straight-Ahead-Jazz und dann dem Soul-Jazz.
 
1995 unterschrieb Scofield schließlich bei Verve. Seitdem ergänzte er seine umfangreiche Diskographie um “Quiet” (1996), einen kammermusikalischer Überraschungsstreich, der Scofield als Akustik-Gitarristen vorstellte, “A Go Go” (1998), “Bump” (2000) und nun also “Works For Me”. Wenn man die stilistischen Kehrtwendungen, die Scofield auf seinen vier bisherigen Verve-Alben vollzogen hat, mit denen früherer Jahre vergleicht, dann scheint es, als würde der Gitarrist immer schneller von einem Genre zum anderen springen. Nach Scofields Meinung hat jede Musikrichtung – vom Country bis zum HipHop – ihre Darseinsberechtigung, solange sie nur gut gemacht ist. “Ich spiele Jazz, hatte jedoch stets Wurzeln, die im Rock’n'Roll und Rhythm’n'Blues liegen. Und `Bump' reflektierte das”, erklärt Scofield. “Dieses Album und das davor, `A Go Go', waren sehr funky. Aber genau darum ging es mir nicht auf `Works For Me'. Hier geht es allein um wahrhaftigen Jazz, und ich könnte mir dafür keine passendere Gruppe von Spielern wünschen.”
 
In der Tat verfügen alle Musiker auf “Works For Me” über hervorragende Referenzen, wenn es um akustisch gespielten Jazz geht. Higgins gehört zu den meistbeschäftigten Drummern der letzten vierzig Jahre, und nur wenige der heutigen Altsaxophonisten können behaupten, einen so frischen und doch leicht erkennbaren Ton zu haben wie der 39jährige Kenny Garrett. Seit geraumer Zeit schon zählen auch der innovative Pianist Brad Mehldau und Scofields Verve-Labelmate Christian McBride zu den gefragtesten jungen Musikern der zeitgenössischen Jazzszene. “Christian spielt mit einer Weisheit und einem Wissen, die man von einem Musiker seines Alters eigentlich nicht erwarten kann”, sagt Scofield. “Er hat die kraftvolle Fähigkeit, mit der Rhythmusgruppe einen Anker auszuwerfen und allen zu erlauben, zusammenzukommen.”
 
Das Alter der Musiker ist tatsächlich höchst unterschiedlich – McBride ist mit 28 Jahren der jüngste und Higgins mit 64 der älteste Musiker des Quintetts. Higgins' Laufbahn reicht weit zurück. Der Schlagzeug-Veteran ist berühmt für seine Arbeit im wegweisenden Ornette Coleman Quartet der späten 50er und frühen 60er, hat aber auch in den Gruppen von Thelonious Monk, Sonny Rollins, Joe Lovano und Pat Metheny schon am Schlagzeug gesessen. “Billy Higgins ist eine der letzten lebenden Legenden aus der goldenen Ära des Jazz, und das kann man seiner Art zu spielen wirklich anhören. Die meisten Leute kennen ihn durch seine Arbeit für Ornette Coleman, aber Ornette war eigentlich eine Ausnahme für Billy. Die meiste Zeit seiner Karriere hat er sich mit Mainstream-Jazz beschäftigt”, erklärt Scofield.
 
“Works For Me” hebt sich von vielen anderen Alben in Scofields reichhaltigem Katalog nicht zuletzt dadurch ab, daß hier ein akustisches Klavier eingesetzt wird. Scofield bemerkt: “Ich habe zwar schon mit Piano aufgenommen, aber nicht gerade häufig. [Anm.: 1977/78 die beiden Enja-Alben `John Scofield Live' und `Rough House' mit Richie Beirach] Für dieses Projekt wollte ich ein Quintett, in dem die Gitarre und das Altsaxophon die Melodieinstrumente sind und von einem Klavier begleitet werden. Ich wollte unbedingt Brad Mehldau, weil ich seine Art zu spielen liebe. Er ist gleichermaßen intuitiv und swingend. Er hat dem Jazzpiano neue Facetten verliehen, was jeder für unmöglich gehalten hatte, weil das Instrument im Jazz bereits so weit entwickelt war.”
 
Garrett wiederum harmoniert bestens mit Scofield, weil beide einen ausgesprochen eklektischen musikalischen Geschmack haben. Wie Scofield ist Garrett, der seinen Aufstieg auch der Miles Davis Group der 80er Jahre verdankt, weit entfernt von jeder elitären Haltung und empfindet tiefen Respekt für die Wurzeln des Rhythm’n'Blues. Aber auf “Works For Me” ging es, wie bereits angemerkt, um lupenreines Jazzspiel, und Garretts Phrasierungen erweisen sich als die perfekte Gegenstimme für Scofields breites Spektrum an musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten.
 
“Musiker, die wirklich die Musik lieben, neigen dazu, eine Menge verschiedener Stile auszuprobieren”, sagt Scofield. “Als ich 17 Jahre alt war, wußte ich, daß ich Jazzmusiker werden wollte. Aber ich wuchs nicht unter einer Jazz-Glocke auf. In den 30ern und 40ern war es noch völlig normal, in einem völligen Jazz-Vakuum zu leben, aber wie hätte man in den 60ern und 70ern unter so einer Jazz-Glocke heranwachsen können? Ich wuchs in einer Ära auf, in der Rock’n'Roll und Rhythm’n'Blues den Ton angaben. Wenngleich ich vorwiegend Jazz spiele, so mag ich doch auch andere musikalische Richtungen. Alles hängt miteinander zusammen. Die Rhythmen des Jazz sind eng verbunden mit denen des HipHop, Funk und Rock’n'Roll. So sind auch die Rhythmen auf `Bump' und `Works For Me' miteinander verwandt, auch wenn es sich um zwei völlig unterschiedliche Alben handelt. Egal, ob ich ein Funk-Album wie `Bump' aufnehme oder ein Straight-Ahead-Projekt wie `Works For Me', ich suche stets nach den jeweils besten Musikern, die ich finden kann. Und egal, wie man die Musik meiner Alben nennen mag, es geht mir immer nur um eines: um Qualität.”
 
Musiker: John Scofield – guitar / Kenny Garrett – alto sax / Brad Mehldau – piano / Christian McBride – bass / Billy Higgins – drums Titel: I’ll Catch You / Not You Again / Big J / Loose Canon / Love You Long Time / Hive / Hell To Toe / Do I Crazy? / Mrs. Scofield’s Waltz / Six And Eight / Freepie
 
Wer weitere Information zu John Scofield sucht, kann dessen eigene Homepage www.johnscofield.com im Web besuchen.

Auf der Internet-Site des All-Music Guide http://www.allmusic.com/index.htm wiederum findet man auf der Seite mit John Scofields Diskographie ein Link zu einer Page der Listen.com, wo der Gitarrist kürzlich als “Guest Editor” gefeaturet war. Dort gibt es zum einen ein interessantes aktuelles Interview mit dem Künstler zu lesen, zum anderen nennt und rezensiert Scofield seine derzeitigen Top 10, von denen man sich dann auch gleich Hörkostproben auf seinen Computer herunterladen kann. So vielfältig wie seine eigene Musik ist auch Scofields Auswahl für die Top 10: Neben Aufnahmen von Legenden wie Miles Davis, Grant Green, Count Basie und Billy Cobham legt uns Scofield die Musik von jungen New Yorker Musikern und Gruppen wie Medeski, Martin And Wood, Soulive, Ponga, Lan Xang, David Fiuczynski und ulu ans Herz.

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