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John Scofield: Überjam

15.02.2002
Nur die wenigsten Künstler verstehen es, sich in mehr als einem Stil wirklich gewandt, virtuos und ehrlich auszudrücken. John Scofield ist einer von ihnen, und das stellt er auf seinem neuen Verve-Album “überjam” nicht zum ersten Mal beeindruckend unter Beweis. Auf “überjam” wird er zum einen seiner Reputation als einzigartiger Jazzgitarrist gerecht, macht dabei zugleich aber auch Groove- und Jam-orientierte Musik auf allerhöchstem Niveau.
Inspiriert von den Rock- und Bluesgrößen der 60er Jahre, begann der 1957 in Ohio geborene und im kleinbürgerlichen Connecticut aufgewachsene Scofield im Alter von elf Jahren Gitarre zu spielen. Durch seinen Gitarrenlehrer lernte er die Musik von Wes Montgomery, Jim Hall und Pat Martino kennen. So “verfiel” John Scofield dem Jazz, dem er bis heute die Treue hält. Nach Abschluß der Schule ging Sco ans Berklee College of Music, um schon wenig später an der Seite von Bandleadern und Musikern wie Charles Mingus, Herbie Hancock, Chick Corea, Joe Henderson, Airto Moreira, Billy Cobham/George Duke, Gerry Mulligan, McCoy Tyner, Jim Hall und Gary Burton ins Rampenlicht der Öffenlichkeit zu treten. 1982 holte ihn der wieder auf die Szene zurückgekehrte Miles Davis in seine Band, mit der Sco dreieinhalb Jahre durch die Welt tourte und drei wichtige Alben (“Star People”, “Decoy” und “You`re Under Arrest”) einspielte.
 
Als Leader hatte Scofield schon in den späten 70ern Aufnahmen gemacht. Eines der ersten Alben, das Scofield unter eigenem Namen veröffentlichte, war die 1979 erschienene Platte “Who`s Who?”, die den Gitarristen auf dem Cover mit seinem Spiegelbild zeigte. Schon damals verleugnete der Gitarrist seine “schizophrene” musikalische Veranlagung nicht: Neben vier funkigen Titeln, die er mit einer Fusion-Band (Kenny Kirkland – keyboards / Anthony Jackson – bass / Sammy Figueroa – percussion / Steve Jordan – drums) eingespielt hatte, präsentiert er in einer Quartettbesetzung mit Saxophonist Dave Liebman, Bassist Eddie Gomez und Schlagzeuger Billy Hart auch zwei absolut jazzige Stücke mit reichlich Spielraum für freie Improvisationen.
 
Das 1980 mit dem Bassisten Steve Swallow und dem Schlagzeuger Adam Nussbaum gegründete John Scofield Trio nahm drei fantastische Alben für Jive/Novus und das Münchener Enja-Label auf, die seitdem in der Plattensammlung von Nachwuchs-Jazzgitarristen einen Sonderplatz einnehmen: “Bar Talk”, “Shinola” und “Out Like A Light”.
 
Zwischen 1984 und 1988 nahm Scofield sechs Alben für Gramavision auf, darunter progressive Funk-Jazz-Klassiker wie “Electric Outlet”, “Still Warm”, “Blue Matter” und “Pick Hits Live”. In seinen Blue Note-Jahren, von 1989 bis 1995, widmete sich der Gitarrist mit großem Erfolg erst dem modernen Straight-Ahead-Jazz und dann dem Soul-Jazz.
 
1995 unterschrieb Scofield schließlich bei Verve. Seitdem ergänzte er seine umfangreiche Diskographie um “Quiet” (1996), einen kammermusikalischer Überraschungsstreich, der Scofield als Akustik-Gitarristen präsentierte, sowie die beiden schrägen Funk-Jazz-Alben “A Go Go” (1998 / eingespielt mit dem Trio Medeski Martin & Wood) und “Bump” (2000 / u.a. mit Soul Coughing-Keyboarder Mark De Gli Antoni, Chris Wood, Tony Scherr, Kenny Wollesen und Johnny Almendra), bevor er Anfang 2001 mit “Works For Me” (featuring Kenny Garrett, Brad Mehldau, Christian McBride und Billy Higgins) wieder lupenreines Jazzterrain betrat.
 
Jetzt vollzieht John Scofield auf “überjam” einmal mehr eine stilistische Kehrtwendung. Überraschte er auf “Bump” schon damit, daß er sich einige junge, unbekannte Musiker (Bassist David Livolsi, Drummer Eric Kalb und Percussionist Johnny Durkin) in seine Band geholt hatte, dann geht er auf “überjam” in dieser Hinsicht (aber auch in mancher anderer) mutig sogar noch einen Schritt weiter. Denn mit Gitarrist Avi Bortnick, Bassist Jesse Murphy und Schlagzeuger Adam Deitch stellt uns Scofield hier drei relative Nobodies vor. Ein Novum ist natürlich auch, daß Sco sich in der Person von Avi Bortnick einen Rhythmusgitarristen an die Seite holte. Eine Praxis, die im Rock zwar gang und gäbe ist, im Jazz aber völlig unüblich.
 
Die elf eigens für “überjam” geschriebenen Stücke werden von einer Band präsentiert, die in ihrer Musik zwar unterschiedlichste Einflüsse und Stile verarbeitet, diese aber durch einen stets präsenten unwidersehlichen Groove wie mit einem unsichtbaren Band unter einander verknüpft. Angefangen beim leicht fernöstlich klingenden “Acidhead” über das lässige “Tomorrow Land” bis zum extrem funky geratenen Schlußstück “Lucky For Her”, fesselt “überjam” den Hörer mit erfrischend progressiven Kompositionen und faszinierenden Improvisationen.
 
“Ich mußte lange suchen, um die richtigen Musiker für dieses Album zu finden”, erläutert Scofield. “Aber ich kann sagen, daß diese Jungs die besten sind, mit denen ich in diesem Genre je gespielt habe. Es ist ein absolutes Vergnügen mit ihnen tagein, tagaus zusammenzuarbeiten. Vor allem wollte ich diesmal ein Album mit meiner eigenen Band aufnehmen, und nicht mit einem ?All-Star-Ensemble?. Diese Band ist in den letzten zirka drei Jahren hervorragend zusammengewachsen, und es geht einfach nichts über eine Gruppe, die sich im Laufe der Zeit entwickeln kann. Direkt im Anschluß an eine Tournee mit 40 Konzerten gingen wir in die Avatar-Studios, um mit den Aufnahmen loszulegen – und die Band war zu diesem Zeitpunkt wirklich eine eingeschworene Einheit. John Medeskis und Karl Densons Gastbeiträge versorgten uns noch mit zusätzlicher Inspiration. Diese Sessions waren wirklich heiß!”
 
“Avi Bortnick ist ein absolut fantastischer Rhythmusgitarrist”, fährt Scofield fort. “Zusammen bringen wir beiden wohl so ziemlich alles zustande, was man auf der Gitarre spielen kann. Es ist nicht einfach einen Gitarristen aufzutreiben, der sich vollkommen dem Groove widmet, während ich endlose Gitarrensoli spiele. Als Avi vor ein paar Jahren erwähnte, daß er sich gerne näher mit der Sampling-Technologie auseinandersetzen würde, ahnte ich nicht im geringsten, daß er sich so schnell in den Elektro-Magier verwandeln würde, der er heute ist!”
 
Bortnick kam in Israel zur Welt, wuchs aber in St. Louis/Missouri auf. Zunächst studierte er an der University of California in Berkley, danach an der Universität in São Paulo/Brasilien und machte seinen Abschluß in Raum- und Bauakustik an der University of Florida in Gainesville. Um ihn für seine Band zu gewinnen, mußte Scofield Bortnick erst von seinem eigentlichen Job in einem kalifornischen Architekturbüro loseisen.
 
Über Bassist Jesse Murphy äußert sich Scofield ebenfalls voll des Lobes: “Jesse ist der intuitivste Bassist, mit dem ich seit langem zusammengespielt habe, und er verfolgt dieselben musikalischen Ideen wie ich. In musikalischer Hinsicht ist er ein wahrer Eklektizist: Er kennt sich in so vielen verschiedenen Stilen aus, und er mag sie alle. Er hat das perfekte Temperament für einen Bassisten: Grenzenlose Energie, kombiniert mit dem Ordnungssinn eines Verkehrspolizisten. So einer ist schwer zu finden und essentiell für eine gute Band!”
 
Das neueste Mitglied der Band ist Schlagzeuger Adam Deitch. “Ich habe schon mit allen möglichen großartigen Schlagzeugern zusammengearbeitet”, meint Scofield, “und nachdem ich das erste Mal mit Adam gespielt hatte, wußte ich sofort, daß er der richtige Mann für diesen Job war. Er hat zuletzt der wiederformierten Average White Band den Rücken gestärkt. Das verrät einem schon einiges über seinen Groove. Er überrascht einen jedes Mal mit neuen Einfällen.”
 
“Wir hatten jede Menge Spaß, mit unserem Programm vor einem breitgefächerten und häufig jüngeren Publikum aufzutreten”, erzählt der Gitarrist. “Diese jungen Leute verstehen wirklich etwas von Musik, hören sehr aufmerksam zu, und ihre Begeisterung ist ansteckend. Es gibt mir einen echten Kick, wenn ich mein Publikum tanzen sehe, obwohl unsere Musik definitiv Jazz ist – und keine Tanzmusik.”
 
“In der Musik von ?überjam? fühle ich wirklich zu Hause”, freut sich Scofield. "Ich begann meine Karriere vor 30 Jahren mit Jazz-Rock, und das Großartige ist, daß sich diese Musik immer noch weiterentwickelt. Wenn man mich mit der ?Wer ist John Scofield??-Frage konfrontiert, antworte ich gerne vereinfachend: ?Jemand, der Rock ebenso mag wie Jazz.? Nahezu alle Interviewer wollen von mir auch etwas über meine Spielerfahrungen mit Miles Davis wissen. Ich schätze, von allen Alben, die ich bislang gemacht habe, ist ?überjam? dasjenige, das Miles am besten gefallen haben würde. Er war immer darum bemüht, den Jazz in andere Gefilde zu tragen.?
 
John Scofield über die einzelnen Stücke von “überjam”:

“Acidhead”
Dieser Song entstand, als wir über Jesses Dub-Bass, der die Grundlage dieses Stückes bildet, jammten. Avis indische Samples inspirierten mich dazu, in einem pseudo-östlichen Stil zu improvisieren. Erst später schrieb ich eine richtige Melodie. Wirklich Gestalt nahm das Stück aber in den Monaten an, als wir es bei unseren Konzerten spielten. Deshalb ist es eine wahre Gemeinschaftsarbeit. Zur Aufnahme kam dann noch John Medeski mit ins Studio und steuerte mit seinem ebenso seltsamen wie einzigartigen Mellotron – einem aus der Mode gekommenen, aber interessanten alten Keyboard – viel zum Gesamtklang der Nummer bei. “Acidhead” ist frei gespielt und weist nur minimale Strukturen auf.

“Ideofunk”
Das schrieb ich in ungefähr fünf Minuten, dachte dann aber erstmal, daß die Melodie zu simpel sei. Nachdem wir es ein paar Mal gespielt hatten, gefiel es mir schließlich doch. Karl Densons mit Überblastechnik und Obertönen gespicktes Flötensolo erinnert mich sehr an Rahsaan Roland Kirk.

“Jungle Fiction”
Dieses Stück nahm schon vor ein paar Jahren erste Formen an, als die jüngeren Musiker, mit denen ich damals zusammenspielte, bei einer Probe plötzlich mit Drum?n?Bass- und Jungle-Beats herumzuexperimentieren begannen. Ich wollte unbedingt etwas in diesem Stil ausprobieren, weil ich schnelle Tempi sehr mag. Wir bewegen uns hier ausnahmsweise mal in Dur-Tonarten. Im Gegensatz zum Rest des Albums, der eher in Moll gehalten ist und sehr bluesig klingt. Auf diese Nummer bin ich wirklich stolz.

“I Brake 4 Monster Booty”
Eine weitere wirkliche Gemeinschaftskomposition. Wieder brachte jedes Bandmitglied seinen Teil ein. So wie ?Acidhead? begann auch dieses Stück als eine Jam-Nummer, die dann im Laufe unserer mehrmonatigen Tournee immer deutlichere Konturen annahm. Es gibt hier einige bemerkenswerte Parts, in denen Avi und ich gemeinsam Rhythmusgitarre spielen – es ist toll, wie unsere beiden Gitarren sich hier ergänzen. Ich glaube, das ist der funkigste Track des gesamten Albums.

“Animal Farm”
Ein Stück von mir. Es war ein “stinknormales” Stück, bis Medeski es mit uns im Studio spielte und es in die Bauernhof-Kakophonie verwandelte, die jetzt zu hören ist. Die Geräusche der “verendenden Gans” habe ich mit meinem Gitarren-Sampler produziert – ich hoffe, alle wirklichen Gänse werden mir das verzeihen.

“Offspring”
Das Stück schrieb ich am ersten Frühlingstag. Es ist Jazz, aber es rockt auch. Was während meines Gitarrensolos abläuft, ist ein gutes Beispiel für das Zusammenspiel des Quartetts: es ist sehr locker und vermittelt ein Live-Feeling. Alles passiert wirklich spontan.

“Tomorrow Land”
Ein Stück von Avi. Es hat eine Country-Soul-Atmosphäre, so wie die Musik, die man abends auf der Veranda hinterm Haus spielen würde: warm und rhythmisch. Das Stück hebt sich eindeutig vom restlichen Material ab – eine Ruheinsel inmitten eines Meeres von Funk.

“überjam”
Die archetypische Jam-Nummer des Albums. Den Grundstein dafür legten wir schon vor über drei Jahren. Jeder trug sein Scherflein bei und irgendwann hatten wir dann schließlich “überjam” geschaffen. Das Stück hat eigentlich sechs Komponisten. Irgendwer schmuggelte Motive von “Blue Moon” hinein, und die wurden dann zu einem integralen Bestandteil des Songs. Das Stück macht auch klar, weshalb diese Band eine Jam-Band ist!

“Polo Towers”
Das Stück schrieb ich während eines einwöchigen Engagements in Las Vegas, welches nicht gerade die Welthauptstadt des Jazz ist. Wenn es etwas gibt, was die Leute nicht wollen, nachdem sie den ganzen lieben langen Tag gezockt haben, dann ist das ein Abend mit progressivem Jazz und langen Soli! Jesse und Adam spielen hier den besten HipHop-Groove dieses Albums. Karl setzt ein aus den 60ern stammendes elektronisches Sax ein, das total abgefahren ist.

“Snap, Crackle, Pop”
Das “Schnippen, Rascheln, Knallen” geht hier auf das Konto von Adam Deitch. Ehrlich gesagt: Mit ihrer lyrischen Melodie und diesem Super-Groove wirkt diese Komposition ein kleines bißchen schizo. Avis Rhythmusgitarren-Breaks zeigen, warum Charlie Hunter ihn als den großartigsten Rhythmusgitarristen der Welt bezeichnet. Diese Nummer bringt mich in Tanzlaune.

“Lucky For Her”
Mit diesem Stück beginnen wir immer unsere Auftritte. Indem wir es hier ans Ende unseres Albums stellten, schloß sich für uns ein Kreis. Es fängt mit einem mechanischen Durcheinander an, aus dem sich meine “Lucky”-Melodie herausschält, die Avi, Jesse und Adam dann mit einem Super-Funk einkreisen. Ich liebe die Art, wie die Maschinen, Gitarren, der Bass und das Schlagzeug in diesem Song aufeinandertreffen.

Musiker: John Scofield – electric guitar / Avi Bortnick – rhythm guitar (1, 3, 4, 7–11), samples (1, 3, 4, 6, 8–11) & acoustic guitar (2, 5 & 6) / Jesse Murphy – bass / Adam Deitch – drums, rap (4) & percussion (7)
Special Guests:John Medeski – Hammond B3 organ (1, 2, 5 & 9), clavinet (1 & 5) & mellotron (1 & 9) / Karl Denson – flute (2) & sax (9)
Songs:Acidhead / Ideofunk / Jungle Fiction / I Brake 4 Monster Booty / Animal Farm / Offspring / Tomorrow Land / überjam / Polo Towers / Snap, Crackle, Pop / Lucky For Her

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