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Balance-Akt

Maurizio Pollini
06.12.2002
Maurizio Pollini startete mit Chopin. Als er als 18jähriger anno 1960 den Warschauer Chopin-Wettbewerb gewann, klopfte ihm das Jury-Mitglied Arthur Rubinstein auf die Schulter und beglückwünschte den Jungen als neuen Stern am Pianisten-Himmel. Es wundert daher wenig, dass Pollini ein gutes Jahrzehnt später die frühen Etüden des polnischen Meisters in bestechender Brillanz präsentieren konnte.
Etüden waren zum Üben geschaffen. Zumindest bis Frédéric Chopin sich ihrer als formalem Rahmen für seine Ideen annahm. Denn der ins Exil nach Paris geflüchtete Pianist und Komponist veränderte grundlegend die Vorstellung vom ausschließlich pädagogischen Wert der Klavierexerzitien. Chopin verstand sie als Möglichkeiten zum Experimentieren und seine “Douze Grandes Étude op.10” (1829–31) und “Douze Études op.25” (1831–36) wurden zum Prototyp einer neuen Gattung konzertanter Selbstreflexionen und Technikerkundungen. Das hatte verschiedenen Gründe. Zunächst war Chopin selbst ein famoser Pianist, dessen musikalische Möglichkeiten den Standard seiner Epoche weit überschritten. Unzufrieden mit den Vorlagen vorhandener Studienwerke, suchte er nach kreativen Perspektiven, die den spieltechnischen Aspekt mit klanglicher Finesse verbanden und den eigenen strukturellen Interessen entsprachen. Darüber hinaus war er beseelt von einem Schaffensdrang, der ihm fortwährend neue melodische und harmonische Einfälle nahe legte. Und nicht zuletzt waren seine Etüden auch für die Pariser Klientel, die er als Privatlehrer betreute, ausgezeichnete Lehrbeispiele. So entstanden 24 kurze und prägnante Klavierstücke, die sich in bislang unbekannter Vielfalt und Poesie der Erforschung der Klaviertatstatur annahmen und über Fragen nach Quart- und Oktavsprüngen, fließender Geläufigkeit und dynamischer Differenzierung sich wie nebenbei mit Formproblemen und Satztechnik auseinander setzten.
 
Insofern sind die Etüden op.10 und op.25 noch immer grundlegende Werke pianistischer Basiskompetenz. Sie überhaupt spielen zu können, gehört zu den Voraussetzungen der klassischer Interpretationskunst am Instrument. Darüber hinaus jedoch muss ihnen ein eigener und klarer Gestaltungswille entgegengesetzt werden, um über die Präsentation des Notentextes hinaus künstlerische Klarheit zu entwickeln. Maurizio Pollini begegnete den zwei Dutzend zum Teil nur knapp eine Minute langen Kompositionen mit der Vorstellung mehrfach sich überlagernder Dramaturgie. Die einzelnen Etüden sind in sich abgeschlossene Kunstwerke, die wie etwa die Etüde Nr.11, op.25 A-Dur Glanzstücke ausgewogener Geläufigkeit darstellen. Mal gewinnt er ihnen Humor ab, lässt tanzhafte Anklänge charmant die Oberhand behalten, mal evoziert er dunkles Pathos, ohne sich ins Klischee des aufgewühlten Genies zu flüchten. Denn gerade die Ausgewogenheit von Virtuosität und Stil, Ernst und Ausgeglichenheit machen aus seiner Interpretation einen Wendepunkt der Interpretationsgewohnheiten, die von da an sich an Pollinis Kunst der Balance orientieren konnten.
 
Die Referenz:
 
“Vom strahlenden, kraftvoll metallischen C-Dur-Einstieg an verblüfft die allen Anforderungen gewachsene Technik des Italieners, der ungeheure Zug innerhalb der motorischen Zielpeilung und natürlich auch die Disziplin im Ausdruck, die keine artikulatorischen Mätzchen duldet.” (Peter Cossé, FonoForum 1985)

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