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Sonntage unseres musikalischen Lebens

03.01.2002
Pianisten-Geburtstag: Maurizio Pollini wird 60 Jahre alt. Natürlich ein Musikfest.
Man hüte sich, den Mann zu unterschätzen. Von Statur klein, die Bewegungen eher fahrig, mit wachsam-unruhigem, unstetem Blick und (fast) immer einer Zigarette in der Hand – so präsentiert sich einer der größten Pianisten unserer, möglicherweise ja aller Zeiten. Wer ihn je im Konzertsaal aus der Bühnentür stürzen und mit schnellem, hastigem Schritt ans Klavier eilen sah, gerade noch Zeit erübrigend für eine knappe, pflichtgemäße Verbeugung vor dem wieder einmal ausverkauften Auditorium, um sich danach scheint’s übergangslos in die Tastatur zu werfen, dem wird in diesem Moment ein für alle Mal klar, welche musikalischen Urgewalten in diesem Manne zum Ausbruch drängen. Und obwohl die nüchtern-analytische, mit vornehmer Zurückhaltung gekrönte Interpretation längst zu seinem Markenzeichen geworden ist, bedurfte es einzig der Uraufführung eines Werkes seines Freundes Luigi Nono, um den Gentleman der Klaviatur aus aller Reserve zu locken. “Bei der Uraufführung von Nonos ‘Como una ola de fuerza y luz’ 1972 hatte man das Gefühl, dass Sie den Flügel, auch mit Pedaltritten, fast wie ein Rockmusiker malträtierten…”, verlangte vor Jahren eine Journalistin nach mehr voyeuristischen Details. Doch Pollini, sich hundertprozentig an jenen Abend erinnernd, ging mit keiner Silbe darauf ein und war einmal mehr ganz Understatement: “Das war halb so schlimm. Bei diesem Klavierpart handelt es sich nicht einmal um ein Stück, das besonders viel Ton- und Klangstärke vom Pianisten verlangt.”
 
Das aber ist einer jener Charakterzüge, die den italienischen Meisterpianisten vor anderen auszeichnet: die Souveränität der Bescheidenheit im Bewusstsein des eigenen Könnens. In einer aus heutiger Sicht geradezu skurrilen Selbstdarstellung Pollinis in der “Welt” vom 30. August 1980 unter dem vielsagenden Titel “Ich finde es stumpfsinnig, dass man immer nur Solisten hören will…” illustrierte er diesen Charakterzug mit dem Bekenntnis: “Ich bin gegen das Arrangieren von Werken, um sie spieltechnisch zu erleichtern. So, wie es geschrieben steht, spiele ich. Zwar kann ich die Kollegen verstehen, die arrangieren, aber für mich lehne ich es ab.” Mit anderen Worten: Mögen es andere anders machen, ich mache es so, weil ich es nur so für das einzig Richtige halte.
 
Überhaupt ist Maurizio Pollini ein Mann der klaren Aussagen, musikalisch und rhetorisch gleichermaßen. Mitunter können dabei seine Urteile sehr harsch ausfallen: “Ich hörte Horowitz in einem Konzert und war davon noch viel beeindruckter als von seinen Platten, vor allem von seiner Wiedergabe der zweiten, der b-moll-Sonate von Rachmaninoff. Es ist zwar schlechte Musik, aber es war eine fantastische Interpretation.” Mit Vehemenz dagegen beschied er vor zwei Jahren dem Journalisten der österreichischen Zeitschrift “profil”: “Was heißt es, ein Star zu sein? Auf Partys herumstehen und grinsen? Das interessiert mich nicht. Außerdem ist mein Privatleben furchtbar uninteressant. In der Popwelt sind Stars vielleicht notwendig. Aber klassische Musiker sollten keine Pappfiguren für die Society sein.” Als sich der Chopin-Spezialist wider Willen und überzeugte Anwalt der Moderne 1987 völlig überraschend dem ersten Band von Bachs “Wohltemperiertem Klavier” zuwandte, begründete er dies mit dem Satz: “Es macht mir Sorge, dass Bach zu einem Tummelplatz für Spezialisten werden könne”, nicht ohne im selben Atemzug seinen Respekt vor den Verfechtern des Originalklanges zum Ausdruck zu bringen. Denn: “Eine nüchterne historische Rekonstruktion kann es nicht geben, weil das Interpretieren von Musik immer auf der lebendigen und spontanen Intuition der Ausführenden beruhen muss. Schlimmstenfalls mag das zum Verrat an der Sache führen. Es ist aber die einzige Möglichkeit, bei einer Wiedergabe großer Musik lebendig und aktuell zu sein.”
 
Interpretationen gerecht geworden ist und nach wie vor gerecht wird. Maurizio Pollini durfte sich seit seinem überwältigenden Erfolg beim Warschauer Chopin-Wettbewerb 1960 mit nahezu einhelligem Kritikerlob schmücken. Attribute wie “sensationell”, “wunderbar”, “meisterhaft” oder “vollendet” gehörten schnell zum stets paraten Vokabular in seinen Konzertoder Plattenrezensionen. Bereits vor über einem Vierteljahrhundert, im Dezember 1975, geriet der Rezensent der “Süddeutschen Zeitung” anlässlich eines Konzertes des damals 33-jährigen Pianisten ins Schwärmen: “Als Pollini mit Schuberts B-Dur-Sonate begann, glaubte man, der Steinway sei verzaubert. So schön, so singend, so kantabel hat dieses Instrument im Herkulessaal noch nie geklungen.” Und erst jüngst brillierte er wie schon so oft bei den Salzburger Festspielen – diesmal mit Beethovens “Appassionata”. Er, der überzeugt ist, dass jeder Beethoven’sche Satz von außerordentlicher Einzigartigkeit sei, bei dem es keine schwachen Stellen gäbe, “er schien dem Wahnsinn nahe, so nahe wie dem Geniestreich, in diesem Tempo eine Klarheit und Deutlichkeit durchzuhalten, die einem blitzartig vor Augen führt, welche Ungeheuer hinter den schön gefärbten Melodien lauern, wie Beethoven die Schönheit des Schreckens komponiert”.
 
Man mag es kaum glauben, am 5. Januar 2002 feiert Maurizio Pollini seinen 60. Geburtstag. Eine Edition wie die nun vorliegende kann bei allem Umfang und Reichtum an Repertoire natürlich nur eine Seite seines überwältigenden musikalischen Genies einfangen. Und doch ist es immer schon die Schallplatte gewesen, die auf den jungen wie den reifen Meister gleichermaßen ihre Faszination ausgeübt hat. “Am meisten habe ich durch das Spiel großer Pianisten gelernt. Jeder von ihnen hat seine eigene künstlerische Persönlichkeit, und so bevorzugte ich immer Teile ihres Repertoires. Dazu gehören auch die alten Schall-Plattenaufnahmen, etwa von Cortot oder Schnabel.” Längst jedoch dürfte es an der Zeit sein, dass man mit derselben Wertschätzung über die vielfach preisgekrönten und gefeierten Aufnahmen von Pollinis eigener Hand spricht. Und in dezenter Abwandlung eines wunderbaren Wortes von Joachim Kaiser aus dem Jahre 1979 gilt für die bereits vorliegenden wie für die noch vor uns liegenden Aufnahmen bis auf den heutigen Tag: “Auf Pollinis Einspielungen freut man sich. Es sind die Sonntage unseres musikalischen Lebens.”

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