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Der Verlorene

12.03.2004
Es gibt Experten, die halten “Saul” nicht nur für Händels bestes Oratorium, sondern für das wichtigste Werk dieser Art überhaupt, das jemals geschrieben wurde. Fest steht jedenfalls, dass die Geschichte um den schrittweise wahnsinnig werdenden Hebräerkönig so aufwändig und komplex gestaltet ist, dass Aufführungen schon aus Gründen der Instrumentierung und des umfangreichen personellen Bedarfs selten sind. Paul McCreesh hat sich im Herbst 2002 daran gewagt und gemeinsam mit dem Gabrieli Consort & Players und Solisten wie dem Countertenor Andreas Scholl das gewaltige Opus für die Archiv Produktion festgehalten.
Als Georg Friedrich Händel 1738 seinen “Saul” vollendete, war er auf dem Höhepunkt seines Erfolges. Seit er 1712 nach London gekommen war, hatte er sich Schritt für Schritt als Komponist italienischer Opern und englischer Kirchenmusik einen Namen gemacht. Er arbeitete als Workaholic rund um die Uhr und hatte bereits mit alarmierenden Konditionsproblemen zu kämpfen. Unter den Notizen des Mäzens Lord Shaftesbury findet sich eine handschriftliche Anmerkung zu Händels Schwächephase: “Äußerste Erschöpfung und Enttäuschung zehrten so sehr an ihm, dass ihn im Frühjahr eine Lähmung befiel, dadurch wurden vier Finger seiner rechten Hand unbrauchbar, und er war nicht mehr imstande zu spielen. Und als der Sommer 1737 mit großer Hitze kam, schien dieses Leiden bisweilen auch seinen Verstand zu beeinträchtigen”. Offenbar bekam Händel seine Erkrankung über die kommenden Monate hinweg in den Griff, jedenfalls arbeitete er zwischen 23. Juli und 27. September 1738 intensiv an dem Oratorium. An 16. Januar 1739 wurde es dann in London uraufgeführt.
 
Oratorien waren in England seht beliebt. Sie waren eine Art von Oper ohne szenische Darstellung und das Publikum war es durchaus gewohnt, mit dem Libretto im Publikum zu sitzen, um der Handlung angemessen folgen zu können. “Saul” allerdings, Händels viertes englisches Oratorium, hatte nicht den Erfolg, den sich der Komponist erhofft hatte. Das lag vor allem an der komplizierten Bühnensituation mit ungewohnten Instrumenten wie dem Tulbakain, einem eigenartigen Metallophon, das für die Peripetie verwendet wurde, als der missgünstige König seine Verfehlungen entdeckte und sich der Strafe Gottes bewusst wurde. Saul war eifersüchtig auf die Erfolge des jungen Davids gewesen, die den Monarchen in der Wertschätzung seines Volkes abzuqualifizieren schienen. Außerdem hatte er sich gegen Gott versündigt, als er dessen Befehle, den König der Amalekiter zu töten und dessen Vermögen zu opfern, missachtet hatte. Keine Chance also für Saul, aus diesem tragischen Konflikt auszubrechen, und eine Herausforderung für Händel und dessen Librettisten Charles Jennens, daraus ein verständliches und stringentes Werk zu schaffen.
 
Tatsächlich fällt “Saul” bis heute aus dem Rahmen. Es ist Händels erstes Werk mit einem Bass als Titelpartie und zugleich das erste englische Oratorium überhaupt mit einem Mann in der Hauptrolle. Es ist länger als alle Werke dieser Art seinerzeit, bietet eine ungewöhnlich differenzierte charakterliche Ausarbeitung der Figuren und erfordert zur Aufführung mehr Aufwand als eine Oper. So ist es noch immer ein Kraftakt, den “Saul” zu erarbeiten. Paul McCreesh hat sich die Mühe gemacht und unter möglichst sinnvollen musikhistorischen Vorgaben die Einspielung für die Archiv Produktion realisiert. Als Spezialist für Barockmusik schafft er es, das Oratorium transparent und dynamisch zu gestalten, mit deutlich nachvollziehbaren Spannungskurven und wunderbaren Solisten wie Neal Davies (Saul) und Andreas Scholl (David) an seiner Seite. Eine wichtige Wegmarke im Repertoire und akustisches Schmankerl nicht nur für Fans der historischen Aufführungspraxis.

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