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Warum Verdi heute wichtig ist – Von Rolando Villazón

Rolando Villazón
© Gabo
07.11.2013
Vor 200 Jahren wurde der wohl meistaufgeführte Opernkomponist geboren. Giuseppe Verdi war einer der vielseitigsten Künstler, den die Welt je sah, und gleichsam der italienischste von allen. Er wurde oft und hart kritisiert, und zählt doch zu den Favoriten fast jeden Opernliebhabers.

Wer noch nicht viel über Oper weiß, kann diese faszinierende Welt mit Verdi entdecken. Seine Meisterwerke können den Zuhörer zu einem treuen Anhänger dieser wunderbaren, lebenden und atmenden Kunstform machen. Die Verbindung von Gefühl, dramatischem Rhythmus, musikalischer Brillanz und technischer Herausforderung war selten so vollendet wie in Verdis Musik.

Dass Verdi auch heute noch modern und populär ist, liegt aber wohl vor allem an seinem innigen Wunsch, das Publikum zu erreichen. Er wollte weder uns Zuhörer beeindrucken, noch war sein oberstes Ziel, Musikwissenschaftlern oder Kritikern zu imponieren. Nein, er diente dem Drama, wollte den Gefühlen seiner Charaktere eine Musik geben. Und er wollte uns fühlen lassen.

So hatte er keine Angst, populäre Weisen zu verwenden oder auch unkomplizierte, sogar simple Rhythmen. Aber er versah sie mit einer genialen Orchestrierung, mit reichen und innovativen harmonischen Konstruktionen und wunderschönen Melodien.

Andere Komponisten, vor allem in der Epoche des Verismo, gaben Emotionen oftmals eine eher eindimensionale musikalische Richtung, um das Publikum in Erregung zu versetzen. Verdis Charaktere hingegen haben stets viele Facetten, sind nicht selten mehrdeutig. Er suchte nach besonderer Tiefe. An einen seiner Librettisten schrieb er: “In den Themen, die Sie vorschlugen…kann ich die Vielfalt, die mein verrücktes Hirn begehrt, nicht finden.” Das Libretto entbehrte der notwendigen Komplexität. Und Schwarz-Weiß-Malerei war das Letzte, was Verdi wollte.
Deshalb können wir Rigoletto im ersten Akt abstoßend finden und im letzten Akt mit ihm weinen. Deshalb haben wir kein Mitgefühl mit König Philipp II. – bis er seinen großen Monolog  Ella giammai m’amo singt und wir endlich in die Seele dieses schrecklichen, zerrissenen Vaters blicken. Deshalb sind wir völlig verzaubert von Alfredos Liebe für Violetta im ersten Akt der Traviata, und genauso entsetzt, wenn wir seine selbstsüchtigen Handlungen im dritten Akt sehen.

Verdi geht in seinen Kompositionen von einem intensiven emotionalem Moment zum nächsten. Er tut es auf so geniale Weise, dass unsere Herzen und Gehirne diese Momente automatisch verbinden und die Geschichte gemeinsam mit ihm erzählen. Durch seine Musik können wir die innere Reise seiner Charaktere nachvollziehen. Vor Verdi haben Komponisten viele Stücke geschrieben, die lediglich das Talent der Interpreten ausstellen sollten – spektakuläre Koloratur, beeindruckende Höhen. Verdi jedoch setzt jedes dieser Mittel des Belcanto in einem unbedingt dramatischen Sinn ein.

Er weigerte sich, einem Dogma oder einer strengen Schule zu folgen und erschuf so seinen eigenen Stil: “…und wenn ich etwas Unregelmäßiges schreibe, dann ist es, weil die strenge Regel mir nicht gibt, was ich will, weil ich nicht alle Regeln, die wir bis jetzt hatten, für gut erachte”. Das heißt jedoch nicht, dass Verdi von seinen Vorgängern nichts gelernt hat. “Geht zurück zu den Alten – das wird Fortschritt sein!”, schrieb er an den Musikverleger Giovanni Ricordi.

Wenn wir verstehen wollen, warum Verdis Musik das Publikum so direkt berührt, dürfen wir uns nicht nur auf die Analyse seiner wunderschönen Melodien, seiner durchsichtigen Orchestrierungen und seines meisterhaften Kontrapunkts beschränken. Verdi selbst schrieb an Graf Opprandino Arrivabene: “Eines Tages werden wir aufhören, über Melodie, Harmonie und Regeln und Musik der Zukunft und Vergangenheit zu sprechen. (…) dann, vielleicht kann die Hoheit der Kunst beginnen”.

Er sprach häufig über l’inspirazione als Motivation hinter seiner Arbeit. Wir sollten den Begriff wohl eher mit Instinkt, denn mit Inspiration übersetzen. Verdi verlangte zum Beispiel von Sängern, die Musik intensiv zu studieren, ihre Stimmen zu trainieren, um flexible Instrumente zu schaffen, und eine perfekte Diktion. Er forderte aber auch, dass sie ihre Lehrer vergessen und ihrer eigenen Inspiration oder ihrem Instinkt trauen sollten, um eine Individualität zu erreichen, die es ihnen ermöglichte, sich in die dramatischen Charaktere zu verwandeln. Und trotzdem sollten sie natürlich dem folgen, was er geschrieben hatte.

Verdi spricht in seinen Briefen viel über Kunst, und es stellt sich die Frage, welchen Platz sie in unserer unsteten Zeit einnimmt. Ich verstehe Verdi so, dass er die Kunst als vollständige Disziplin verstand, deren Ziel es sein muss, andere durch Wahrhaftigkeit und Brillanz zu erreichen und zu bewegen. Kunst als ein Ort, an dem wir uns als Gleiche treffen. Als der direkteste Ausdruck des unsichtbaren Chaos, das in jeder menschlichen Seele pulsiert. Ich glaube, Verdi wusste letztlich, dass er erreicht hatte, was er erschaffen wollte. So konnte er anderen helfen, ihre Ziele zu erreichen, wenn sie es eben auch wagten, Grenzen zu überschreiten, Regeln zu brechen. Er schrieb “..und über den Rest, caro Arrivabene, sorge Dich nicht. Kunst wird nicht sterben”.

Das, caro Maestro Verdi, trifft besonders auf Ihre Kunst zu: Sie ist lebendiger denn je, und wir brauchen sie heute, wie wir sie immer gebraucht haben.

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