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Kammerklang in Reinkultur

Sir Neville Marriner
23.08.2002
Es geschah beim Kricket. Harley Usill, Plattenboss von Argo Records, spielte in derselben Mannschaft des London Symphony Orchestra wie Neville Marriner. Er war zwar wenig begeistert von dessen Qualitäten als Torhüter, umso mehr aber von der Academy of St Martin in the Fields, die sein Gegenüber leitete. Er lud das Kammerorchester zu Aufnahmen ein und sicherte auf diese Weise dessen Fortbestand, der durch den Tod der früheren Gönnerin Louise Hanson-Dyer gefährdet war.
Genau genommen ist die ganze Geschichte der Academy of St Martin in the Fields eine Aneinanderreihung von Glücksfällen. Es fing damit an, dass der Organist John Churchill anno 1958 Neville Marriner beauftragte, ein Orchester zusammenzustellen, das den Namen der musikgeschichtlich berühmten Kirche am Trafalgar Square tragen sollte. Seine Wahl war gut, denn der erfahrene Kammermusiker und Konzertmeister der zweiten Geigen beim London Symphony Orchestra hatte etwas Besonderes im Sinn. Er wollte ein großes Ensemble mit transparentem Klang schaffen, dessen Beteiligte sich nicht dem Diktat exzentrischer Dirigenten unterwerfen, sondern gleichberechtigt an der Erarbeitung der Werke teilhaben sollten. Marriner ging es um die Authentizität des Klanges, musikhistorisch fundiert und möglichst genau mit Gleichgesinnten umgesetzt. In der Spielzeit 1958/59 debütierte das junge Orchester in seiner namensgebenden Kirche mit fünf Konzerten, mehrere Rundfunksendungen folgten. Als die Musikverlegerin Louise Hanson-Dyer kurz darauf ein für die BBC entstandenes Demoband der Academy in die Hände bekam, erkannte sie dessen Potential und verpflichtete das Ensemble für ihr Label LýOiseau-Lyre. Schon die ersten Aufnahmen wurden von der Presse überschwänglich gelobt. Allerdings beendete 1962 der Tod Hanson-Dyers der ersten Aufstieg von Marriners Projekt.
 
Immerhin, es folgten Usill und die Zeit bei Argo/Decca, akustisch hervorragende Räume wie die Kingsway Hall und nicht zuletzt ausgezeichnete Tontechniker wie Kenneth Wilkinson und Stan Goodall, die durch clevere Mikrofonaufstellungen maßgeblich der Klang der Aufnahmen beeinflussten. So gingen archivarische Sorgfalt, technische Raffinesse und künstlerische Entwicklung Hand in Hand. Die Academy avancierte unter Marriners Leitung mit ihren Alben und Konzerten zu einem der renommiertesten Kammerensembles der Welt. Sie wurde zum Sinnbild größtmöglicher Natürlichkeit und Direktheit des Klangs, zur Referenz adäquater Tongestaltung mit historischem Bewusstsein. Über die im April 1968 entstandene Einspielung von Tschaikowskys “Streicherserenade” zum Beispiel schrieb der Rezensent der Fachzeitschrift Gramophone enthusiastisch: “Dieser Aufnahme ist der Erfolg garantiert: Stil, ein äußerst kultiviertes Ensemble selbst in der Rubati, eine untadelige Balance zwischen den Stimmen, ein lebhaftes Gespür für Klangschattierungen und Wertabstufungen, ein federnder Rhythmus in Valse und insgesamt eine von Wärme erfüllte Aufnahme”. Die Meinungen über die 1970 entstandenen Versionen von Dvoraks “Streicherserenade” und Griegs “Holberg-Suite” waren kaum weniger begeistert. Und so schlossen sich mit der Zeit immer mehr Fans dem Urteil von H.C. Robbins Landon an, der die Academy of St Martin in the Fields schlicht als “das beste existierende Kammerorchester” bezeichnete. Mit Recht, wie man hören kann.

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