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Natur und Schein

19.10.2005
Natur war für die deutsche Romantik nicht einfach die Landschaft, die den Menschen umgab. Im Gegenteil, sie wurde durch zum Teil sehr stark gefärbte ideologische Brillen gesehen. Mit Herder zu Beginn der Aufklärung wurde sie von der leidigen, gottgewollten Prüfung zu einer Art Projektionsraum für allerlei Utopien auf der einen Seite, aber auch zum Mittelpunkt der einsetzenden wissenschaftlichen Durchdringung bislang unverständlicher Phänome auf der anderen. Sie wurde zum Ideal ebenso wie zum Klischee und die sprießende Dichtkunst der Romantik fand dafür zahlreiche poetische Worte. So auch Wilhelm Müller (1794–1827), der sich in jungen Jahren als Freiheitskämpfer in Griechenland profilierte, im restaurativen Metternich-Europa aber anfing, mit Idyllen zu spielen. Sein Zyklus “Die schöne Müllerin” von 1821 ist eine Sammlung, die Natürlichkeit behauptet, im Kern jedoch ein streng durchgeformter dichterischer Text ist, der Franz Schubert zu einer Vertonung inspirierte, die bis heute die gesangliche Spreu vom Weizen trennt.
Der besondere Reiz liegt in der Gegensätzlichkeit von poetischer Form und musikalischer Kunstfertigkeit. Müllers Gedichte suggerieren ein gewisse Form von Naivität, die als Natürlichkeit gilt. Wenn er da reimt: “Ich hört ein Bächlein rauschen / wohl aus dem Felsenquell, / hinab zum Tale rauschen / so frisch und wunderhell. / Ich weiß nicht, wie mir wurde, / nicht, wer den Rat mir gab, / ich musste auch hinunter / Mit einem Wanderstab”, dann wird mit der gleichen Einfalt gespielt, die Eichendorffs “Taugenichts” in der Wertung mancher Kritiker zu einem Urtyp des deutschen Naturells werden ließ. Auch Schubert, der 1824 mit seiner Vertonung des zwanzigteiligen Zyklus an die Öffentlichkeit trat, kokettierte mit diesen Assoziationen, die allerdings gegen Ende der Gedichte immer deutlicher mit den Möglichkeiten des Scheiterns und des Todes sich befassten (auch das ein typisches Motiv der Romantik). Für einen Sänger bedeutet das daher, dass er zum einen die Oberfläche des Naturburschen abbilden können muss, ohne damit lächerlich zu wirken, zum anderen aber mit möglichen ironischen und ernsten Tiefenschichten konfrontiert ist, die aus dem Text und vor allem aus der Musik heraus eine vielschichtigere Deutung nahe legen. Das wiederum ist ein Talent, das nicht viele Sänger haben oder hatten, Fritz Wunderlich vielleicht und ein paar wenige Nachfahren diese Gesangsgenies.

Und dazu gehört Thomas Quasthoff. Selbst längst als einer der besten und ausdrucksstärksten Interpreten seines Fachs international anerkannt, hat sich der 46-jährige Bariton im vergangenen Sommer in das Berliner Teldex Studio begeben, um die “Schöne Müllerin” nach dem großen Erfolg der Live-Aufführungen auf CD festzuhalten. So konnte man etwa in der Süddeutschen Zeitung über eines der Konzerte lesen: “Tiefe Eindrücke hinterließ Quasthoffs Version der ‘Müllerin’: ein Bassbariton, der nur erzen klang, wenn Abneigung gegen und Wut über den Jäger zu artikulieren waren. Ansonsten: Schubert-Gesang der Mezzavoce, häufig auch aus einem Piano, das einen Tenor suggeriert und damit eine noch tragischere Fallhöhe als ohnehin schon – die Retrospektive eines (zu) schönen, fernen Traums, auch eine todtraurige Geschichte von Aufbegehren und Resignation. Und beim abendlichen Lob des Müllermeisters für ein paar Takte auch eine Ballade, eine Miniatur-Oper”.

Diese dramatische Vielschichtigkeit der Gestaltung war auch der Mittelpunkt der Aufnahme ohne Publikum im Studio und Quasthoff schaffte es mit der ihm eigenen Mischung aus Perfektion und Emotion, genau den richtigen Tonfall zu treffen. Das lag an seinem Talent, aber auch an der intensiven Zusammenarbeit mit dem Pianisten Justus Zeyen, der zu seinen bevorzugten Lieder-Partnern gehört. Seit Jahren aufeinander eingespielt, gelang auf diese Weise eine Aufnahme der Schönen Müllerin, die weit über das übliche Maß sympathetischer Interpretationen hinausreicht.

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