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Underworld – “Barking”

Underworld
12.08.2010
Wie hält man das Feuer am Lodern, in einer musikalischen Beziehung, die in den letzten 30 Jahren zahlreiche, formvollendete Stürme überstanden hat? Ist es möglich, in so einer bewegten Karriere noch Inspirationen zu finden? In einer Laufbahn, die mit deprimierenden Tiefpunkten ihren Anfang nahm, bevor sie sich aufwärts, in die höchste Stratosphäre des Erfolgs schraubte – inklusive Band-Auflösungen und Wiedergeburten; Alkoholismus, Gigantomanie und Chartstürmer; einer Ozon vernichtende Menge an Haarspray und einer Partnerschaft, an der seit den Siebzigern gearbeitet wird? Im Falle von Karl Hyde und Rick Smith, gemeinsam seit Mitte der Achtziger als UNDERWORLD aktiv, war die Lösung einfach, fern der heimatlichen Gefilde aufzuspielen.
Mit ihrem musikalischem Pioniergeist und forschenden Texten konnten UNDERWORLD seit ihrer sagenumwobenen Auferstehung in den frühen Neunzigern die Entwicklung elektronischer Musik immer wieder nach vorne treiben. Ihr erstes Album als Trio (mit Darren Emerson, einem jungen DJ aus der Nachbarschaft), “Dubnobasswithmyheadman”, wird von der Kritik mit einem Beifall gefeiert, der bisher den höchsten Rängen der Rock-Aristokratie vorbehalten schien. Als Resultat von jahrelangem Feintuning und stetiger Neufokussierung ist “Dubnobass” der lebensrettende Weckkuss, von dem andere Bands zu diesem späten Zeitpunkt ihrer Karriere nur träumen können.  Im Verlauf der nächsten 15 Jahre entwickelte sich  UNDERWORLD vom kultigen Sonderling, der 500 12inches direkt aus dem Kofferraum heraus verkauft, zum weltweiten Festival-Headliner und Kassen-Magneten. Nicht ohne dabei genug Zeit für die süßen Extras zu finden, ob subsonische Experimente für unterirdischen Dancefloors oder Filmmusik für Regisseure wie Danny Boyle und Anthony Minghella.
Die Veröffentlichung ihres sechsten Studio-Albums, “Barking”, präsentiert UNDERWORLD als eine Band, die sich erneut in das Abenteuer einer kreativen Regeneration gestürzt hat. Wie zuvor bedurfte es eines kleinen Anstoßes, um das Feuer wieder zum Lodern zu bringen. Bereits der maschinelle Puls der Eröffnung, “Bird 1”, lässt keinen Zweifel aufkommen: Diese Musik stammt von einer Band, die  sich neu gefunden hat – in einem Akt der Wiedergeburt.
Die Geschichte von UNDERWORLD beginnt vor langer Zeit, in Cardiff, 1980. Karl begegnet Rick zufällig in einem Studenten-Wohnheim, justament als der es sich gerade mit einer fast leeren Flasche Champagner, vollständig bekleidet in der Badewanne bequem machen will, um die letzten Stunden seines Geburtstages zu feiern. Ihre musikalische Beziehung erblüht aus einer gemeinsamen Liebe zur seltsamsten Seite der John Peel Show. Zunächst musizieren sie mit den in Cardiff verwurzelten The Screen Gemz, dann mit Freur, deren Name von einer geprägten Glyphe repräsentiert wird und deren Look am besten mit dem Wort “troubled” beschrieben werden kann. Bei CBS unter Vertrag, schicken sie elektronische Klänge durch ein Rock’n’Roll-Instrumentarium und arbeiten dafür mit Studio-Legenden wie Conny Plank (Kraftwerk, Neu!) und Dennis Bovell (The Slits, Orange Juice).  Beide Produzenten helfen Smith und Hyde, ihre fiebrige Besessenheit für motorische Elektronik und höhlenartigen, mäandernden Dub kreativ zu kapitalisieren. Obwohl in Europa erfolgreich, verschwinden Freur und die erste Version von UNDERWORLD mit dem Gezeitenspiel der Modewellen. Die Band veröffentlichte zwei Alben mit Elektro veredeltem Rock’n’Roll, mit denen sie in eine Art “In 80 Tagen um die Welt” Tretmühle einsteigen; dabei nehmen sie Australien mit dem Album “Underneath The Radar” gefangen. Als die Band schließlich 1989 langsam desintegriert, kehrt Smith nach Großbritannien zurück und zieht nach Essex während sich Hyde als Gitarrist für Debbie Harry verdingt.
Die Stunde Null in Gestalt von Acid House hat die musikalische Landschaft in der Heimat nachhaltig verändert. Das zwingt Smith dazu, seine Musik einer Neubewertung zu unterziehen. Die Bekanntschaft mit Darren Emmerson, 13 Jahre jünger als Smith und bereits bemerkenswert inspirierend als DJ, führt zu ersten gemeinsamen Studioarbeiten und einer Beziehung mit dem Label Junior Boy’s Own. Hyde findet zufällig genau in dem Moment zur UNDERWORLD zurück als die Band gerade im Begriff steht, eine Serie von extrem avancierten 12inches zu veröffentlichen: “Big Mouth”, “Dirty”, “Mmm … Skyscraper I Love You” and “Rez” (letzteren Song beschrieb Jon Savage jüngst als die beste Art von Tanzmusik, “ein Song der vom Publikum inspiriert ist und den Deal besiegelt, indem er etwas zurückgibt: Aufregung, Einigkeit, Erhabenheit”). Jede dieser Platten ist verspielt – ja, irgendwie auch “strange”. Die Musik scheint in ihrem eigenen Raum-Zeit-Kontinuum zu existieren, einen entscheidenden Schritt  neben und/oder vor dem, was alle anderen machen. Signifikant sind Hydes “Stream Of Consciousness”-Lyrics – stark inspiriert von Lou Reeds “New York”-Album and Sam Shepards Buch “Motel Chronicles” – in Kombination mit der zyklischen Elektronik, die scheinbar um den Hörer herum zischt und ihn einspinnt …
“Dubnobasswithmyheadman”, das erste UNDERWORLD-Album mit Emerson, erscheint im Januar 1994. Die englische Musikzeitung Melody Maker bezeichnet es als “das wichtigste Album seit The Stone Roses und das beste seit Screamadelica ,“ enthusiastisch fügt sie hinzu, “es wird immer nur eine Band Underworld geben!”. Damit ergibt sich Großbritanniens Musik-Presse endgültig und enthusiastisch der Tanzmusik. In den kommenden Jahren bekräftigen UNDERWORLD ihren Status als revolutionärer Live-Act – mit einem Sound, “der so einzigartig ist, dass er jede Imitation scheitern lässt,” (The Guardian) bzw. mit “purer dreidimensionaler Pop Art” (The Times). Schnell bewegt man sich vom Dancefloor zum Großzelt, um schließlich auf der Hauptbühne zu landen . Der Nachfolger von “Dubnobass”, “Second Toughest In The Infants”, ringt selbst dem intellektuellem New Musical Express ein ungewöhnliches Lob ab - “sanft im Kontakt,  elegant im Fundament und absolut “slippery” in den Rhythmen behauptet sich das Anti-Green-Day-Trio in ihrem Streben nach Dominanz, was den westlichen Groove betrifft.” Die Transformation der Band von Aufsteigern zu Genre atomisierenden Visionären ist endgültig abgeschlossen.
Anfang 1996 benutzt der britische Regisseur Danny Boyle beim Schnitt seines Low-Budget-Film die Musik von “Dubnobass”. Seine Verfilmung von Irvine Welsh Meisterwerk “Trainspotting” brilliert im Endschnitt mit  einem Soundtrack, der die Meisterklasse des Britpops repräsentiert. Der Beitrag von UNDERWORLD“Nuxx”, 1995 die B-Seite der Single “Born Slippy” – wird synonym mit dem Film und damit mit dem ganzen Sommer 1996. Die Single steigt auf Platz 2 der englischen Charts und verkauft sich allein in Großbritannien 750.000 mal. Der Text von “Nuxx” dokumentiert einen von Hydes nächtlichen Streifzügen durch Londons West End, während einer Periode seines Lebens, in der er meinte, die grenzenlosen Möglichkeiten des exzessiven Alkoholmissbrauchs für sich ausloten zu müssen.
Das dritte Album als Trio trägt den enigmatischen Titel “Beaucoup Fish” - der NME lobt diesmal: “Ein bemerkenswertes drittes Album – 74 Minuten von Großteils unangepasstem Techno und oben drauf das Kauderwelsch eines großäugigen, pulsierenden Hyperaktiven, der wahrscheinlich alt genug ist, es besser zu wissen.”  In der Folge der Veröffentlichung erweitert sich die Tour immer weiter (dokumentiert auf dem Live-Album und der bahnbrechenden DVD, “Everything, Everything”) und Emerson verlässt UNDERWORLD, um Solo-Projekten weiterzuverfolgen.  Mit “Everything” geht die Band erstmals Online. Auf ihrer Webseite www.underworldlive.com führt Hyde ein öffentliches Tagebuch, zudem bietet die täglich aktualisierte Site seit nunmehr 10 Jahren neben vielen kleinen Extras auch furiose Radio-Shows – unter anderem inspirierend von UNDRWORLDs Erlebnissen als Vertretung für John Peel auf Radio 1 und von spontanen Live-Sendungen in allen Winkeln der Welt.
Noch vor der Veröffentlichung von “A Hundred Days Off” , Underworlds viertem Album – ihrem ersten als Duo – entschließt sich Hyde dazu, seine persönlichen Dämone auszutreiben, indem er sich als Alkoholiker outet. Dieses kathartische Erlebnis erklärt auch die strahlende, super-positive Single-Auskopplung “Two Months Off “ (“ein Klassiker, vielleicht sogar ihr bester bislang”, BBC Online), eine Platte, die im Sommer 2002 omnipräsent ist und mit einer ähnlich hypnotischen Sogwirkung aufwartet wie “Nuxx” sechs Jahre zuvor.
Immer darauf aus, die Möglichkeiten neuer Technologien für sich nutzbar zu machen, veröffentlichen UNDERWORLD im Rahmen ihres “Riverrun”-Projekts eine Serie von Internet exklusiven Veröffentlichungen und verkaufen sie direkt an ihre Fan-Base. Zwei Jahre vor Radioheads entsprechendem Versuch des Direktverkaufs, verknüpfen die drei “Riverrun”-Downloads verschiedene Tracks zu einem knapp halbstündigen, dicht gewebten Klang-Werk. Viele Elemente der Veröffentlichung  inspirieren die Band bei ihrem Soundtrack zu Danny Boyles Science Fiction-Film “Sunshine”. Die Arbeit daran und ihre Musik für “Breaking and Entering” (dem letzten Film von Anthony Minghella) führt direkt zu “Oblivion With Bells”. Ein Album das die filmischen Qualitäten der Band deutlicher betont. Darf man es also behaupten, dass nach einem Vierteljahrhundert der Zusammenarbeit, Underworld mit zunehmenden Alter etwas mellow werden?
Doch Ende 2009 erscheint ohne große Vorankündigung eine andere Art von Underworld-Platte. Ähnlich wie die frühen, in 500er Auflage gepressten 12inches ist “Downpipe” ganz offenkundig für den Dancefloor gemacht. Realisiert in Zusammenarbeit mit den beiden Techno-Produzenten Mark Knight und D. Ramirez, klingt die Platte auf eine Art “streamlined” wie das letzte Album “freeform” klang. Als “Downpipe” in den Clubs einschlägt, stellt sich UNDERWORLD erneut eine Frage, die sie schon seit geraumer Zeit umtreibt:  Warum nicht einfach ein paar seelenverwandte Künstler einladen, um das nächste UNDERWORLD-Album gemeinsam zu machen?
Barking entsteht genau so. Neben Knight und Ramirez (”Always Loved A Film”, “Between Stars”) gelingt es einem ganzen Ensemble von brillanten, ähnlich denkenden Produzenten aus allen Ecken der moderner Tanzmusik, mit ihrem persönlichen Touch das Original-Material der Band zusätzlich zu veredeln.  Mit dabei sind der Drum’n’Bass-Artist High Contrast aus Welsh (”Scribble”, “Moon In Water”), der viermalige Grammy-Gewinner Dubfire (”Bird 1”, “Grace”), die aus Bristol stammenden Dub Step-Produzenten Appleblim und Al Tourettes (”Hamburg Hotel”) sowie UNDERWORLDS Langzeit-Begleiter Darren Price (”Between Stars”). 
Während alle neun Tracks von der Band geschrieben und in ihrem Studio The Pigshed aufgenommen werden, nimmt jede Kollaboration eine unterschiedliche Form an – hier ein paar Edits, dort etwas zusätzliche Programmierung, bis hin zur totalen Neukonstruktionen – am Ende geht alles für den finalen Mix an die Band zurück. Während UNDERWORLD bisher als geschlossene Einheit wahrgenommen wurde,  profitiert “Barking” von Hydes Erlebnisse während der aufwendigen Arbeit mit Brian Eno an dem Projekt Pure Scenius, einer ausschließlich mit Improvisation arbeitende Jam-Band, die sich zusammenfindet, um im Sydney Opera House eine unvergessliche Show zu spielen.
Bei so einer glanzvollen Besetzung und dieser Menge an Talenten stellt sich nur noch die Frage, wie das nun klingt. Das erste Pulsieren des untergründigen Basses, die ersten Vocals – sanft wie ins Ohr geflüsterte Worte – die ersten zischenden Hi-Hats lassen keine Zweifel aufkommen. Das ist UNDERWORLD - von Elektronik mühelos ummantelte Songs; Texte wie aus einem Bewusstseinsstrom, der unentwegt bleibende Bilder produziert; ein perfekt ausbalancierter Mix aus Melodie und Rhythmus.  Mit ihrem sechsten Studio-Album präsentieren sich UNDERWORLD in neuer Bestform – wobei fairerweise hinzuzufügen ist, dass sich die Band noch nie unter Preis verkauft hat. Wie die Bombe der Icarus II in Danny Boyles “Sunshine”, diente die neue Arbeitsweise weniger dem kreativen Funken als einer Explosion von Myriaden neuer Fragmente. Und das klingt genau so brillant und einzigartig wie wir es von Underworld gewohnt sind.

Dreissig Jahre dabei und UNDERWORLD spielen das beste Album ihrer Karriere ein, indem sie mit einer handverlesenen Auswahl von Gästen zusammenarbeiten? Man darf sich schon wundern. Es war ein Risikospiel aber für UNDERWORLD bestand vielleicht der ganze Trick auch darin, auswärts zu spielen  
Bleibt nur die Frage, mit wem sie nächstes mal ins Bett steigen.
Soll es doch kommen, das siebte Album …!

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