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Die Schöne und der Zwerg

02.07.2004
Für Hector Berlioz war Michail Glinka einer der großen Harmoniker des Jahrhunderts. Der französische Spätromantiker hat sich wie manch anderer Kollege von seinem russischen Vorbild inspirieren lassen, vor allem in der orchestralen Verarbeitung volksmusikalischer Themen. Denn Glinka war ein Pionier der zeitgenössischen Musik, ein brillanter Virtuose der großen Form. Seine Oper “Ruslan und Ljudmila” zum Beispiel gehört zum Opulentesten, was das Genre zu bieten hat.
Aus heutiger Sicht ist Michail Glinka (1804–57) der Vater der klassischen russischen Musik. Sicher gab es bereits vor ihm Komponisten, die sich mit dem klingenden Erbe des gewaltigen Landes auseinander setzten. Aber erst bei Glinka stimmten die Voraussetzungen, dass daraus auch ein anhaltender Erfolg werden konnte. Da war zunächst der historische Hintergrund. Das zaristische Russland war nach dem Sieg über Napoleon und dem Wiener Kongress zu einer europäisch wichtigen Macht aufgestiegen. Das bedeutete im Zeitalter der Nationalstaaten, dass auch die kulturelle Identifikation mit seinen Qualitäten und die Repräsentation nach außen eine zunehmend zentrale Bedeutung bekam. Glinka, in gehobene Verhältnisse hineingewachsen, schaffte es nach ein paar Jahren im Staatsdienst und in Italien, im Jahr 1836 mit “Iwan Susanin” die erste wirklich russische Oper zu entwerfen. Die Resonanz auf das Werk war groß, ebenso der Erwartungsdruck, in dem einmal eingeschlagenen Sinne weiter zu machen. Doch Glinka ließ sich nicht vereinnahmen. Er folgte lieber seinen eigenen künstlerischen Vorstellungen und griff für das Bombastbühnenwerk “Ruslan und Ljudmila” auf eine Vorlage Alexander Puschkins zurück. Der nun wiederum war zwar ein angesehener Autor, machte sich aber durch kritische Äußerungen regelmäßig bei den Herrschenden unbeliebt.
 
Und so war auch die Vorlage zu Glinkas Oper durchaus mit ironischen Elementen garniert. Puschkin mischte im Stil der literarischen Travestie die russische Märchenwelt mit der Volksepik, würzte das Ganze mit ein paar durchaus erotischen Passagen und hielt es im Stil populär durch die Mischung verschiedener Sprachebenen. Da er allerdings kurz vor Kompositionsbeginn 1842 bei einem albernen Duell ums Leben kam, musste sich Glinka selbst an die musikbühnenvertägliche Ausarbeitung des Stoffes wagen. Ljudmila, bei Puschkin ein freches Mädchen, das ihren Entführer, den Zwerg Tschernomor, an der Nase herumführt, wird bei Glinka zur aufrechten Braut, die für ihre Liebe zu Ruslan sogar ins Wasser gehen würde. Ein Verehrer, der auf die Suche nach der Geraubten ausgesandt wird, fällt ganz unter den Tisch. Farlaf, der zweite wird als moralisch bedenklich gekennzeichnet, Ratmir, der dritte, bekommt mit Gorislava eine eigene Geliebte hinzuerfunden, sodass genau genommen keiner eine ernsthafte Konkurrenz für Ruslan werden kann. Der wiederum durchläuft mehrere Besinnungs- und Prüfungsphasen, bis er zum Schluss glücklich und selbstzufrieden seine Ljudmila wieder nach Hause führen kann.
 
Für Valéry Gergiev war “Ruslan und Ljudmila” daher eine besondere Aufgabe. Zum einen gehört die Oper zum russischen Traditionsgut, dessen Pflege er sich seit seinen Anfängen in den spätern Siebzigern verschrieben hat. Andererseits gilt es, den märchenhaft anachronistischen Stoff für ein Publikum aufzuarbeiten, das über TV und Satellit diverse Formen der globalen Unterhaltung genießen kann. Gergiev entschied sich daher für Prunk und ließ Glinkas Werk 1995 in den prächtigsten musikalischen und optischen Farben an seinem Stammhaus, dem Mariinsky Theater in St. Petersburg, erstrahlen. Außerdem hatte er einen Trumpf im Ärmel. Für die Titelrolle der Ljudmila wählte er die damals erst 23jährige und kaum bekannte Anna Netrebko, die durch ihren Schönheit und ihren Charme es tatsächlich glaubhaft macht, dass sich drei Recken zu ihrer Rettung auf den Weg machen. So dokumentiert die DVD der spektakulären Produktion, die in Zusammenarbeit mit der BBC entstand, nicht nur die Wiederentdeckung einer opulenten Oper, sondern auch einen der Anfangspunkte einer internationalen Karriere, die die Sopranistin Netrebko im Anschluss an diese frühen Jahre starten sollte. Zuguterletzt sind auch noch zwei Bonus-Filme zu sehen, einer über die Glinka-Oper an sich, der andere über Gergiev und dessen künstlerischen Werdegang. “Ruslan und Ljudmila” ist daher ein Juwel unter den Opern-DVDs, berauschend in der Inszenierung, innovativ im Entdeckergeist und ausgezeichnet in der Präsentation.

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