Valery Gergiev | News | Kein Opfergang

Kein Opfergang

31.08.2001
Grüngelb vor Neid wäre Skriabin geworden, angesichts Strawinskys “Sacre”-Erfolg. Valery Gergiev führt die beiden jetzt wieder zusammen.
Um 1907 war Skriabin in ganz Europa der am meisten diskutierte und umstrittenste Komponist. Er konnte mehr als 50 Werke vorweisen, darunter 3 Symphonien, “Le Poème de l’exstase”, 5 Klaviersonaten und über 150 Miniaturen für Klavier solo. Der um zehn Jahre jüngere Strawinsky hatte wenig Interessantes komponiert außer einer braven Symphonie in dem konservativen Stil seiner besseren Vorgänger. Skriabin arbeitete noch an seiner dritten Symphonie, “Le Divin Poème”, als er 1904 eine vierte Symphonie zu planen begann. Er veröffentlichte ein langes, weitschweifiges Gedicht, das er als das “philosophische Programm” der neuen Symphonie ausgab und gab ihm den Titel “Le Poème de l’exstase”. Man erfuhr, dass die Exstase eher künstlerisch als erotisch sei, wenn auch der Komponist, wie Andrew Huth in seinem Aufsatz über Skriabin und Strawinsky schreibt, keinen großen Unterschied zwischen Kunst und Erotik machte.
 
Strawinsky war einer der begeistertsten Besucher bei der St. Petersburger Erstaufführung des “Le Poème de l’exstase” 1909. Doch während Skriabins “Poéme” trotz seines revolutionären Auftritts herkömmlichen Strukturen der Sonatenform folgte, erlebte Strawinskys “Sacre”-Ballett im Mai 1913 eine stürmische Uraufführung. Die Leute pfiffen, buhten, prügelten. Das Thema – der Versuch, die vorchristlichen Rituale alter slawischer Stämme zu rekonstruieren – erforderte eine Kraft und Heftigkeit, für die Strawinsky völlig neue musikalische Mittel und der Choreograph eine aggressiv modernistische Ästhetik entwickelt hatte. Bereits zum dritten Mal – nach “Der Feuervogel” (1910) und “Petruschka” (1911) – arbeitete Strawinsky in Paris mit dem russischen Impresario und Choreographen Sergej Diaghilev zusammen.
 
Anstatt sich, wie viele seiner Kollegen in Europa, in reicher postwagnerianischer Chromatik zu ergehen, komponierte Strawinsky für “Sacre” Harmonien, die im Prinzip ganz einfach sind. Kleine, überschaubare Phrasen, die wie besessen um einen einzigen Ton kreisen. Das Riesenorchester verzichtet auf feine Schattierungen zugunsten wuchtiger Grundfarben, wird manchmal rhythmisch behandelt, als wäre es Schlagzeug – besonders, wenn eine Kraftmaschine wie Valery Gergiev am Pult steht und das Kirov Orchester dirigiert. Dann vereint Strawinskys “Frühlingsopfer” Widerpole: Klangexplosion und Feinstruktur, hochemotionale Musik und energischste Konzentration. Vielleicht war das die Erotik, nach der Skriabin suchte.

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