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Musik des Schicksals

04.03.2005
Wie kaum ein anderer hat sich Valery Gergiev der Würdigung und Pflege der russischen Musiktradition verschrieben. Insofern passt es gut ins Bild, dass sich der Dirigent aus Moskau im Laufe der vergangenen sieben Jahre in verschiedenen Arbeitsphasen mit den Wiener Philharmonikern den späten Sinfonien seines Landsmanns Pyotr Ilych Tschaikovsky gewidmet hat. Nun liegen alle drei Aufnahmen in einzelnen Editionen vor und präsentieren sowohl das Spitzenorchester wie auch seinen Leiter in herausragender Form.
Es war eine Begeisterung für die Musik, die Ensemble und Dirigent von Anfang an teilten. Valery Gergiev denkt dabei mit anhaltender Bewunderung an die ersten Erfahrungen zurück, die er 1998 am Pult der Wiener Philharmoniker machte, als er eingeladen worden war, Mussorgskijs “Boris Godunov” für die Salzburger Festspiele einzustudieren: “Ich erinnere mich, dass ich im Verlauf der Vorbereitungen auf dieses Konzert daran denken musste, dass unsere Probenzeit ihrem Ende zuging. Bei vielen anderen Orchestern wäre es nun schwierig gewesen, die Probe zu verlängern – aber nicht bei den Wienern. Wir arbeiteten einfach solange weiter, bis wir das Gefühl hatten, dass jeder Punkt klar war und wir wirklich vollkommen vorbereitet waren. So etwas ist für einen Dirigenten unglaublich”. Und es ist hörbar, denn Gergiev und das Orchester ziehen in der Interpretation an einem Strang. Man merkt die intellektuelle Gemeinsamkeit, die enorme Sicherheit bis in die kleinen Nuancen der Gestaltung, die bei Tchaikovsky über Wohl und Wehe des Höreindrucks entscheiden. Sie sind grundlegend für das Werkverständnis und gehören in den Bereich, der sich nur noch schwer in Worte fassen lässt: “Man sollte da vorsichtig sein. Schostakovitsch zum Beispiel – ein weiterer großer Sinfoniker – teilte nie sonderlich viel zu seinen Sinfonien mit, und selbst für die Idee hinter den Sinfonien Beethovens ist es schwierig, Worte zu finden. Und so ist es auch für den Dirigenten sehr schwer, über diese Dinge zu sprechen. Da ist es besser, sich aufs Dirigieren zu beschränken und zu versuchen, gemeinsam mit dem Orchester etwas zu erarbeiten und zu erschaffen”.

Dabei hat Tchaikovsky selbst sogar stellenweise durch seine Kommentare geholfen, bestimmte Interpretationen zu bevorzugen. So existiert zur vierten Sinfonie, die er größtenteils 1877 in einer problematischen Phase seines Lebens geschrieben hatte, als seine überstürzte Ehe mit Antonia Milyukovy nach drei Monaten scheiterte, eine Beschreibung, in der der Komponist immer wieder auf die Macht des Schicksals abhebt. Bei der fünften Sinfonie, die er 1885 in einer Zeit zunehmenden Erfolgs schrieb, sind die Andeutungen eher rar, allerdings ist auch hier wieder von den Kräften die Rede, die das Leben und die Kunst bestimmen. Seine letzte und sechste Sinfonie schließlich beschrieb er in einem Brief an seinen Neffen Vladimir Davidov mit euphorisierten Gefühlen: “Ich halte sie voller Zuversicht für das beste und vor allem für das aufrichtigste aller meiner Werke. Ich liebe sie so, wie ich noch nie eines meiner musikalischen Kinder geliebt habe” – ein Testament also, dass der Komponist am 27. Oktober 1893 der Öffentlichkeit präsentierte, eine Woche bevor er starb. Für Gergiev und die Wiener Philharmoniker jedenfalls sind alle drei Werke Aufforderungen zur Höchstleistung. Aufgenommen 1998 (Nr.5), 2002 (Nr.4) und 2004 (Nr.6) dokumentieren sie einen bei aller Wucht verblüffend kompakt agierenden Klangkörper, der vom Überschwang über die philosophische Luftigkeit bis zur dunklen Vorahnung dem Komponisten folgt, als sei er von dessen eigener Eingebung geleitet. Ein beeindruckender Wurf und eine klangliche Herausforderung für jede Hifi-Anlage.

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