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Pflicht und Ironie

21.05.2004
Dmitri Schostakowitsch hatte sich auf ein gefährliches Spiel eingelassen. Er stellte seine Werke in den Dienst der sowjetischen Kulturbürokratie und hatte als musikalisches Aushängeschild des kommunistischen Regimes immer wieder mit Maßregelungen durch die Parteispitze zu kämpfen. Seine 1937 geschriebene 5.Symphonie entstand aus eben jener Situation heraus, ein linientreues Werk zu verfassen und zugleich die eigene künstlerische Identität nicht zu verleugnen. Schostakowitsch bewältigte diese Herausforderung mit Bravour und schuf eine neoromantische Symphonie, deren Kraft bis heute fasziniert.
Es war eine Zeit des Stimmungswechsels. Noch bis Mitte der dreißiger Jahre war es der kommunistischen Propaganda gelungen, die Wirren der Oktoberrevolution in das Entstehen eines neuen, verheißungsvollen Staates umzumünzen. Scharenweise waren europäische Intellektuelle nach Russland gereist, um die Umsetzung des sozialistischen Traumes der Gleichheit und Freiheit aller Menschen mitzuerleben. Mit Stalin jedoch änderte sich die Wahrnehmung. Verfolgungen von Regimekritikern wurden ebenso zur Normalität im Lande wie groteske Schauprozesse und Hinrichtungen missliebiger Personen. Selbst hochgeschätzte Persönlichkeiten wie Dmitri Schostakowitsch (1906–1975), der seit seiner ersten Symphonie 1926 zu den wichtigsten Beispielen produktiver Sowjetkunst gehörte, kam in Bedrängnis, als sein Mentor und Freund Marschall Tuchatschnewski von Stalins Schergen verhaftet und als Volksfeind von Staatswegen ermordet wurde.
 
Die Argusaugen der Zensur wachten daher mit besonderer Aufmerksamkeit darüber, wir er 1937 den 20.Jahrestag der Oktoberrevolution musikalisch flankieren würde. Doch Schostakowitsch war geschickt. Er komponierte zwischen April und September 1937 ein Werk, dass so souverän mit Spannungsbogen und Gefühlslenkung arbeitete, dass die Premierengäste sowohl in Leningrad wie in Moskau zu Tränen gerührt waren. Ganz im Beethovenschen Sinne arbeitete er aus dem Konflikt im ersten Satz konsequent über emotional ruhigere Passagen die Apotheose im Finale heraus – genau das, was sich die Parteiführung wünschte und zugleich den Formprinzipien der klassischen Moderne entsprach. Die fünfte Symphonie wurde daher – auch international – außerordentlich erfolgreich, als Zeichen für die Größe der Sowjetkunst, die der alte Schostakowitsch in seinen späten Lebenserinnerungen allerdings vollkommen anders beurteilte: “Ich denke, jedem ist klar, was in der Fünften geschieht. […] es ist so, als schlage man uns mit einem Knüppel und verlange dazu: ‘Jubeln sollt ihr, jubeln sollt ihr!’ Und der geschlagene Mensch erhebt sich, kann sich kaum auf den Beinen halten. Geht, marschiert, murmelt vor sich hin: ‘Jubeln sollen wir, jubeln sollen wir!’”
 
Ein knappes Jahrzehnt später, als der zweite Weltkrieg Europa in Schutt und Asche gelegt hatte, war erneut ein Jubelwerk von Schostakowitsch gefragt. Seine Neunte sollte ein monumentales Opus werden. Doch es wurde eine seiner klarsten, kürzesten und zugleich ironisch humorvollsten Kompositionen. Das Publikum in Russland begriff. Die internationale Kritik zum Teil nicht, denn man warf Schostakowitsch eine gewisse Albernheit vor, mit der er den Sieg über den Nationalsozialismus in Töne umsetzte. Wie auch immer, beide Werke gehören bis heute zu den wichtigen orchestralen Dokumenten, die die Mahlersche Klangkraft konsequent fortsetzen.
 
Dementsprechend nachdrücklich widmet sich auch Valery Gergiev den beiden Symphonien im Rahmen seiner Schostakowitsch-Einspielungen. Aufgenommen in St. Petersburg und in Finnland während des Frühjahrs 2002 mit dem Kirov Orchester des Marientheaters, entwickelt er eine Mischung aus Ernst und Leichtigkeit, die aus der Perspektive des Nachgeborenen die nur scheinbar propagandistischen Werke vom Schwulst befreit. Schostakowitsch wird auf diese Weise zum Menschen hinter der Fassade, der seine Emotionen geschickt verschlüsselt, aber doch deutlich genug seinen Zeitgenossen und deren Erben präsentiert.

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