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Meisterklasse

Vladimir Ashkenazy
© Decca / Ben Ealovega
26.05.2010
Nach dem Tod des Thomaskantors Johann Kuhnau am 5.Juni 1722 hatte die Stadt Leipzig das Amt neu ausgeschrieben. Bald häuften sich die Bewerbungen berühmter Komponisten wie Christoph Graupner und Georg Philipp Telemann. Einer von ihnen wäre es wahrscheinlich auch geworden, doch sie sagten im letzten Moment wegen andere Verpflichtungen ab. „Da man nun die besten nicht bekommen könne, müsste man mittlere nehmen“, meinte der Bürgermeister Abraham Christoph Platz. Und so fiel die Wahl des Gremiums auf Johann Sebastian Bach. Als der neue Kantor im Mai 1723 mit vier Wägen und zwei Kutschen in der Stadt eintraf, um sein „neu renovirtes“ Dienstquartier in der Thomasschule zu beziehen, konnte keiner der Räte ahnen, dass sie sich eine streitbaren Künstler eingeladen hatten. Über die kommenden zwei Jahrzehnte hinweg geriet er regelmäßig mit dem städtischen Gremium aneinander, wenn jemand versuchte, ihn in seinen Kompetenzen und Zuständigkeit zu beschneiden. Außerdem war es eine deutliche Umgewöhnung von den Vorzügen des Hochfürstlich Anhalt-Cöthenschen Capellmeisters, als der er sechs Jahre lang dem Fürsten Leopold gedient hatte. Doch das wiederum schreckte Bach nicht. Im Gegenteil: Mit immenser Energie entwickelte er sich zum Workaholic, schrieb Kantaten, Motetten, Lehr- und Auftragswerke zu sehr unterschiedlichen Funktionen und eigene Studien, die nicht vorrangig für die Öffentlichkeit gedacht waren.
Dazu gehörten auch seine Erkundungen, mit denen er sich dem Klavier widmete und dessen Möglichkeiten er auszuschöpfen versuchte. Nach dem „Zweiten Notenbüchlein der Anna Magalena Bach“ (1725) komponierte Bach in den folgenden Jahren „6 Partitas“, die unter dem Titel „Clavierübung 1.Teil“ 1731 erschienen. Und in der für ihn typischen Art des Understatements schuf er damit sechs suitenartige Klassiker des Genres, die bis heute neben den „Goldbergvariationen“ zum Anspruchsvollsten und zugleich Reizvollsten gehören, was die Klavierliteratur zu bieten hat. Für den russischen Pianisten Vladimir Ashkenazy, der bereits seit 1963 zum Stamm der Decca-Künstler gehört, sind sie seit Jahrzehnten ein wichtiger Bestandteil seines Repertoires.
Doch erst jetzt mit knapp 73 Jahren, fand er es an der Zeit, die „6 Partitas“ auch in seiner Deutung für die Nachwelt festzuhalten. Das Resultat dieser lebenslangen Beschäftigung mit Bach ist beeindruckend. Vladimir Ashkenazy gelingt das Kunststück, zum einen hinter die wunderbare Kraft der Musik zurückzutreten und sie aus sich heraus wirken zu lassen, auf der anderen Seite ihr aber eine markante individuelle Note zu geben, indem er Tempi sorgsam auswählt, Akzente überzeugend setzt, überhaupt den Eindruck vermittelt, die „Clavierübungen“ würden so spielend von der Hand gehen wie ein kleines Präludium. Das ist tatsächlich große Kunst, denn so entfalten die „Partitas“ eine hintergründige Pracht, die bei aller Strenge des Genres den Hörer in den Bann zieht.

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