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Manfred Steffen

Im Sog der Stimme

02.07.2001
Manfred Steffen schimpft und schmeichelt, er scharmiert und fabuliert. Das ist sein Job. Jetzt wird der Sprecher und Märchenerzähler 85 Jahre alt.
Der dramatische Augenblick in vielen Mythen und Märchen ist der Stimmenzauber. Aus Nacht und Wolken, aus Bäumen, verwunschenen Blumengärten, aus Fels und Wüste, aus dem Nichts – plötzlich eine Stimme. Sie kann drohend oder zärtlich, fluchend oder rettend, roh oder sammetsanft sein. Stimmen können zaubern und verzaubern. Nicht nur im Märchen. Die Künste des Stimmenzaubers beherrscht Manfred Steffen wie kaum einer. Heinrich Mann oder Andersen, Lindgren oder Robert Louis Stevenson, Morgenstern, Fontane, Goethe, Lessing, Storm, Hesse, die Bibel oder Grimms Märchen: Steffens Stimme kennt die Geheimnisse der Verwandlung. Er kann heiter, trocken-komisch, sanft, unheimlich oder seidenzart damit umgehen.
 
In einer Zeit schmerzhafter Lärmkulissen, ausgeliefert dem Gedudel, Gehämmer, dem infernalischen Techniklärm einer Gesellschaft, die ohne Pause gnadenlos Getöse produziert, grenzt es an Wunder, wenn es einer einzelnen Stimme gelingt, Hörer zum Zuhören zu zwingen. Nein, nicht Zwang – Suggestion. Suggestion des Sprachzaubers, Kunst ohne Künstelei. Steffen benutzt die Stimme so erfinderisch wie ein Musiker das Instrument. Und er entwirft ganze Partituren für dieses Instrument. Es gibt bei ihm die Modulationen von Moll zu Dur, Sequenzen, die piano und forte, fortissimo, allegro, andante, adagio oder appassionato vorgetragen werden. Nie aber mit dem falschen Zungenschlag des selbstverliebten, silberschönen, prätentiösen Sprechens, das nur ästhetische Langeweile herstellt.
 
Steffen bleibt immer Steffen. Auch wenn er sich noch so vollkommen in einen Text hineindenkt. Ja, er spricht die Texte von innen. Nicht die Fassade, sondern der Kern, das Herzstück einer Dichtung interessiert ihn. Das Geheimnis des guten Erzählers: Er stellt ohne pathetische Verrenkung authentische Atmosphäre her. Deshalb findet sich in seinen Hörstücken, die kleine Kunststücke sind, auch nicht der fatale Märchenonkelton, den viele berühmte Interpreten von Kinderliteratur noch immer für “kindgerecht” halten. Gute Erzähler sind gute Übersetzer. Sie enträtseln, dechiffrieren einen Text, machen ihn durchsichtig und begreifbar. Das traurige Gegenstück sind die schrillen Komödianten, die mit falschem Dröhnen “deklamieren”, auftragen, pompös inszenieren. Dies alles meidet Steffen natürlich; erzählt schlank, ein wenig rauh, immer in der intelligenten Bescheidenheit gegenüber dem Autor. Dient souverän. Der exzellente Erzähler hat es nicht nötig, sich aufzublähen oder in eine lächerliche Rivalität zum Schriftsteller zu begeben; Steffens sympathische Disziplin ist dennoch immer getragen von Engagement. Nicht das kühle, korrekte Sprechen aus dem Labor, sondern eine empfindsame, warme Stimme, die Emotionen pur und schier übermitteln kann: Trauer und Witz, Zorn und Zärtlichkeit, Lachen, Weinen, atemlose Spannung, Angst und Tollheit.
 
Wenn Steffen “Mio, mein Mio” von Astrid Lindgren liest, dann wird der kleine Bo Vilhelm Osse quicklebendig vor unserem geistigen Auge. Ja, ein wirklich netter Kerl ist Bosse, der bei seinen Pflegeeltern einfach nicht glücklich wird. Kraft seiner Fantasie träumt er sich ins Land der Ferne, wo der böse Ritter Kato den König bedroht. Plastisch treten die Charaktere in Steffens Lesung hervor, ganz besonders Bosse und sein König, der in Wahrheit doch der ersehnte Vater ist. Genauso selbstverständlich folgen wir dieser Stimme, wenn Steffen von Madita, Pippi, Polly, den Svensons, der Schneekönigin, Mutter Hollunder oder Peter Pan erzählt. Manfred Steffen, der Zauberer, wird 85 Jahre alt. Wer seine Stimmer einmal gehört hat, muss sie lieben.