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Jóhann Jóhannsson: eine verschollene Symphonie

JÓHANN JÓHANNSSON: A Prayer to the Dynamo
30.06.2023
Deutsche Grammophon bringt die Weltersteinspielung von A Prayer to the Dynamo von Jóhann Jóhannsson heraus. Auf dem neuen Album erscheinen zudem erstmals zwei Suiten, die der Komponist aus seinen oscarnominierten Filmmusiken zu Sicario und Die Entdeckung der Unendlichkeit zusammenstellte und arrangierte. Technik im Allgemeinen und Feldaufnahmen in einem isländischen Kraftwerk im Konkreten inspirierten den Komponisten zu seinem großen Orchesterwerk, und dann begegnete er noch den Schriften von Henry Adams.
Daníel Bjarnason steht am Pult des Iceland Symphony Orchestra bei diesen Aufnahmen in Reykjavíks  Harpa-Konzertsaal. A Prayer to the Dynamo erscheint am 15. September 2023 auf CD, als Doppel-LP und digital, mit einem Text des renommierten Musikjournalisten und Radiomoderators John Schaefer, der ein Gespräch mit Jóhannssons Vater, Jóhann Gunnarsson, führte. Vor Erscheinen des Albums werden im Lauf des Sommers drei Tracks veröffentlicht: »A Model of the Universe« (am 30. Juni) und »Forces of Attraction« (am 28. Juli), beide aus Die Entdeckung der Unendlichkeit; Teil 1 aus A Prayer to the Dynamo folgt am 25. August.
Jóhannsson schrieb A Prayer to the Dynamo im Auftrag des Winnipeg Symphony Orchestra. Das Werk wurde nur einmal vor Publikum gespielt, bei seiner Uraufführung am 3. Februar 2012 auf dem New Music Festival des Orchesters. Es sei ein Wendepunkt in Jóhannssons Schaffen, sagt Matthew Patton, Kurator des Festivals, unabhängig von narrativen Zwängen komponiert, wie sie mit Filmmusiken einhergehen: »In solcher Freiheit hat er nie ein so großes und langes Orchesterstück geschrieben.« Patton nennt es eine »verschollene Symphonie«. Nun ist sie erstmals weltweit zu hören.
A Prayer to the Dynamo ist für großes Orchester geschrieben, doch es sind darin auch Aufnahmen von elektrischen Installationen, Generatoren und Hochspannungsleitungen verarbeitet. Jóhannsson machte sie im stillgelegten Wasserkraftwerk Elliðaár am Stadtrand von Reykjavík. Schon immer faszinierte ihn das Verhältnis von Mensch und Technik, selbst wenn die Technik in die Jahre gekommen war. Elliðaár wollte er in Bildern und Tönen festhalten. »Ich habe die Geräusche aufgenommen [und] die Anlage auch in Schwarz-Weiß auf Super 8 gefilmt. [Nach] meinen Erfahrungen mit Archivbildern von der britischen Kohleindustrie in der Arbeit an The Miners’ Hymns kam mir der Gedanke, einen Kurzfilm über das Kraftwerk zu drehen.«
Das Filmprojekt blieb unvollendet, weil Jóhannsson starb. In seinen Kompositionsauftrag aber konnte er seine Elliðaár-Erfahrungen einweben. Die Arbeit von Edison, Tesla und auch ein Kapitel in den Memoiren des amerikanischen Historikers Henry Adams (1838–1918) inspirierten ihn. »Der Dynamo und die Jungfrau« überschrieben, hält Adams darin Eindrücke von der Pariser Weltausstellung im Jahr 1900 fest und denkt über die verborgene Kraft der gewaltigen Maschinen nach und die gleichfalls unsichtbare Macht des religiösen Glaubens. Seine Gedanken formen sich in »Prayer to a Dynamo«  (Gebet an einen Dynamo), das Teil eines längeren Gedichts ist. In Notizen zu seinem Film verglich Jóhannsson die Elliðaár-Anlage mit einer Kathedrale. Die Vorstellung von Größe, Majestät, Mysterium und Trost spricht aus seiner Komposition mit ihrem dichten Streichersatz, choralartigen Blechbläsern und aufsteigenden Holzbläsern, denen der dröhnende, pulsierende Nachhall seiner Feldaufnahmen unterlegt ist.
Die zwei kurzen Suiten des Albums bringen Musik aus Die Entdeckung der Unendlichkeit und Sicario zu Gehör. Beide Soundtracks waren für einen Oscar und weitere Preise nominiert, wobei der erste einen Golden Globe als Best Original Score gewann. Nun aber war Jóhannsson nicht mehr an die Filme gebunden und arrangierte seine Suiten nach rein musikalischen Kriterien. Seine Theory of Everything-Suite endet beispielsweise mit »Cambridge, 1963«, dem einstigen Eröffnungsstück, und sie beginnt mit »A Model of the Universe«. Beide rahmen drei Stücke, die durch den Klang der Celesta zu einer lyrischen Sequenz einzelner Episoden verbunden sind.
Die Sicario-Suite hingegen fängt in nur drei knappen Sätzen, beginnend mit den rauen Klängen von »Target«, das Gefühl von Bedrohung und schwelender Gewalt ein, das den Film durchdringt. Ein solistisches Cello steht im Mittelpunkt von »Desert Music«, bevor »Melancholia« sowohl Suite als auch Album beschließt, ein Ende »von ruhiger, wenngleich reumütiger Schönheit, wie man es von Jóhannsson erwartet«, so Variety.
Die Diskografie des Komponisten wird mit diesen drei Weltersteinspielungen vervollständigt und auch facettenreicher. »Jóhannssons Musik scheint in einer Zeitkapsel von einem fernen Planeten zu kommen, der ein Spiegelbild unseres eigenen ist«, schrieb Gramophone letztes Jahr über Drone Mass. »Dass er abwesend ist, macht seine einzigartige Klangwelt noch geheimnisvoller und magischer.«

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