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Inge und Walter Jens: Katias Mutter: Hedwigs Tochter

03.08.2006
Das Palais Pringsheim in der Münchner Arcisstraße wurde von den Nationalsozialisten niedergerissen, damit Platz für die neue Parteizentrale entstand. Es ist bezeichnend, dass der Sitz einer der intellektuell und kulturell anregendsten Familien Deutschlands ausgerechnet dem Repräsentationsprotz des Kleingeistes weichen musste. Hedwig Pringsheim nahm es mit spöttischer Gelassenheit, so wie sie überhaupt dem Fin de Siècle mit den Scharfsinn einer ausgezeichneten Beobachterin begegnete. Das Schriftstellerehepaar Inge und Walter Jens hat dieser ungewöhnlichen Persönlichkeit nachgeforscht und ihr nun mit “Katias Mutter” ein längst überfälliges Denkmal gesetzt.

Die Mutter hatte es in mancher Hinsicht schwerer gehabt. Hedwig Dohm musste noch für jede Errungenschaft kämpfen, die sie im Rahmen der Anfänge der Frauenbewegung Mitte des 19. Jahrhunderts erreichen wollte. Sie war das elfte von achtzehn Kindern eines Tuchfabrikanten, musste mit 15 Jahren die Schule verlassen, schaffte es als 18jährige, für sich eine Ausbildung zur Lehrerin durchzusetzen und heiratete schließlich Ernst Dohm, den späteren Chefredakteur des Satiremagazins “Kladderadatsch”. Auf diese Weise kam sie mit den intellektuellen Zirkeln Berlins in Kontakt, lernte Zeitgenossen wie Lassalle, Humboldt, Varnhagen, Fanny Lewald oder auch Fontane kennen. Sprachlich gewandt trat sie publizistisch für die Gleichstellung der Frauen ein, ohne sich jedoch politisch konkret zu engagieren. Dafür ließ sie ihren vier Töchtern die bestmögliche Bildung zukommen, die unter damaligen Berliner Verhältnissen möglich war. Dohms Tochter Hedwig wiederum konnte daher einem ebenfalls sehr kunstsinnigen jungen Mann und Mathematiker mit dem Namen Alfred Pringsheim, dessen Vater wiederum es vom Bahnspediteur zum Multimillionär gebracht hatte, auf gleicher intellektueller Augenhöhe begegnen. Im Jahr 1877 verlobten sich die beiden, bald darauf zogen sie nach München. Es muss ein ungleiches Paar gewesen sein. Sie eine hoch gewachsene, elegante und schlanke Schönheit, er ein kleiner, humorvoller und lebhafter Mann, beide mit auffallender Intelligenz gesegnet. So dauerte es nicht lange, bis aus dem Palais Pringsheim in München ein gesellschaftlicher Treffpunkt wurde, an dem sich jeder, der Rang und Namen hatte, gerne blicken ließ.

Hedwig Pringsheim war eine beeindruckende Frau. Bekannt jedoch wurde sie bislang vor allem als Mutter von Katia, die eines Tages einen jungen Literaten namens Thomas Mann mitbrachte, der wiederum zu ihrem “Schwiegertommy” wurde. Für das Schriftstellerehepaar Inge und Walter Jens war diese kulturelle Missachtung Grund genug, sich mit dieser außergewöhnlichen Persönlichkeit zu beschäftigen. Nachdem sie mit “Frau Thomas Mann” bereits mit einer Biographie der Tochter nachgeforscht hatte, wandten sie sich nun “Katias Mutter” zu und schufen damit eine längst überfällige Würdigung einer für München im Speziellen, aber auch für das deutsche kulturelle Leben des ersten Jahrhundertdrittels insgesamt wichtigen Frau. Sie spürten den Besonderheiten dieses reichen, tapferen und gegen Ende trotzig traurigen Lebens nach und entwarfen ein buntes und spannendes Spiegelbild des ausgehenden großbürgerlichen Lebens, bis hin zur Kapitulation von Vernunft und Menschlichkeit in Gestalt der Nationalsozialisten, die selbst eine an sich mit unerschütterlicher Kraft gesegnete Kämpferin wie Hedwig Pringsheim auf ihre alten Tage zur Emigration zwang. Mit einer Mischung aus Anteilnahme, Witz und urteilender Distanz widmen sich Inge und Walter Jens sich über mehr als fünf Stunden hinweg ihrer Biographie vor den Mikrofonen. Beide lesen mit Stimmen, denen man die Erfahrungen eines langen, ereignisreichen Lebens anmerkt, und verleihen den Dokumenten und zahlreichen verwendeten Quellen dadurch eine besondere Direktheit, die dem Ziel einer umfassenden Würdigung einer Frau, die mehr war als “Katias Mutter”, mit Charme und Emphase gerecht wird.