Andreas Scholl | News | "Letztlich fasziniert die Mühelosigkeit": Ein Interview mit Andreas Scholl

“Letztlich fasziniert die Mühelosigkeit”: Ein Interview mit Andreas Scholl

01.08.2000
Keine Allüren, und doch längst schon ein Star. Die Kantaten Johann Sebastian Bachs, Händels Oratorien und Opernhelden oder auch das Vokalwerk Antonio Vivaldis sind seine Welt. Oder doch nur ein Teil davon. Denn der deutsche Countertenor mit belgischem Wohnsitz und Lehramt in Basel ist alles andere als ein “Schmalspur-Klassiker” der alten Schule und streckt seine musikalischen Fühler schon mal in die eine oder andere unkonventionelle Richtung aus, ohne gleich ein Hans-Dampf-in-allen-Gassen zu sein.
KlassikAkzente: Herr Scholl, die versunkene Welt der Kastraten ist seit geraumer Zeit wieder ein Thema in der Kunst: Bücher wie “Cry to Heaven” von Anne Rice, Ortkempers “Engel wider Willen” und “Der Virtuose” Margrit de Moors, oder aber ein Film wie “Farinelli” schüren das Interesse an einem Sängertypus, der zwar für immer verloren zu sein scheint, mit der historisierenden Aufführungspraxis in Gestalt des Countertenors indes seine moderne Auferstehung feiert. Wie gegenwärtig ist für Sie beim Singen das Ideal der ehemals hohen Kunst der Kastraten?
 
Andreas Scholl: Ich habe schon häufig Händels Julius Caesar gesungen, bislang immer konzertant wie beispielsweise 1996 in der Berliner Philharmonie, werde diese Rolle nun aber 2002 in Kopenhagen auch auf der Bühne singen. Und wie man weiß, war das eine von Händels Paraderollen für Senesino, den berühmtesten Kastraten seiner Zeit. Ich aber habe beim Singen das wunderbare Gefühl, als hätte Händel diese Musik für mich komponiert: Die Partie ist mir wie auf den Leib geschnitten! Das waren noch Zeiten, als den Sängern ihre Partien geradezu in die Kehle komponiert wurden … Wenn man mich also fragt, ob ich diesen oder jenen Händel singen kann, frage ich nur: War das eine Rolle für Senesino? Und dann sage ich sofort ja. Ich weiß natürlich nicht, wie Senesino gesungen hat; aber wenn man nach und nach mit einer Rolle für eine bestimmte Person der Vergangenheit vertraut wird, dann kommt irgendwann der Punkt, an dem man sich mit dem “fernen Verwandten” zu identifizieren beginnt.
 
KlassikAkzente: Wobei der Unterschied zwischen Ihnen und dem “fernen Verwandten” – vom Physischen einmal ganz abgesehen – ja wohl vor allem in der Gesangstechnik liegt, oder?
 
Andreas Scholl: Ich nehme mal an, dass der Senesino viel schöner und virtuoser gesungen hat, als ich das heute kann. Das werden wir leider nie erfahren! Auf jeden Fall klingt eine Kastratenstimme anders. Es gibt da zwar diese Aufnahme mit dem letzten Kastraten der Capella Sistina aus dem Jahre 1902 …
 
KlassikAkzente: … Sie meinen Alessandro Moreschi …
 
Andreas Scholl: … genau, immerhin Jahrgang 1858 und erst 1922 gestorben!! Natürlich, es ist ungemein interessant, eine Stimme zu hören, die knabenhafte Reinheit mit der Kraft des erwachsenen Mannes verbindet. Was ja wohl auch das Unerhörte an diesen Stimmen war, denen eine ganze Welt zu Füßen lag …
 
KlassikAkzente: Andererseits kann die Stimme des alternden Moreschi in der unvollkommenen Tonqualität jener Tage nur eine vage Ahnung vermitteln …
 
Andreas Scholl: … sicher, und sein Stil ist alles andere als Barock!! Es klingt vielleicht gemein, aber im ersten Moment lacht man natürlich …
 
KlassikAkzente: … und man fühlt sich ein wenig an Florence Foster Jenkins erinnert …
 
Andreas Scholl: … richtig, aber hin und wieder blitzt da mal etwas auf, wo man denkt: Aha, das könnte es gewesen sein, das hat die Leute damals um den Verstand gebracht.
 
KlassikAkzente: Nun hat es ja auch nach Händel noch Kastratenpartien gegeben: Mozarts “Exsultate, jubilate” etwa, Rossinis “Aureliano in Palmira”, und selbst noch Giacomo Meyerbeer komponierte mit dem Armando eine Kastratenpartie in seiner Oper “Il crociato in Egitto”. Reizt Sie auch diese Spätphase einer musikalischen Ära?
 
Andreas Scholl: Das kommt in erster Linie auf die Rollen selbst an, wie sie für die Stimme sitzen. Wenn es unbequem und anstrengend ist … dann eher nicht. Ich finde, Singen muss immer etwas mit Natürlichkeit und Mühelosigkeit zu tun haben. Das war das Ideal des Barock. Tosi schrieb in seiner Gesangsschule, was denn das Geheimnis des Gesanges sei: Einer singe schnell, der andere hoch, wieder ein anderer könne laut singen. Es sei aber letztendlich die Mühelosigkeit, die uns fasziniere … Man muss sich voll und ganz der Musik widmen können, ohne darüber nachdenken zu müssen, wie der Sänger das wohl macht. Und das sehe ich genauso. Sobald man die Anstrengung merkt -, und schlimmstenfalls auch hört!! – lass' ich es sein und lehne ab. Natürlich gibt es immer Partien, bei denen man weiß, irgendwie würde es schon gehen, irgendwie käme man mit der Höhe oder der Tiefe schon klar. Aber dieses “irgendwie” ist mir eben zu wenig.
 
KlassikAkzente: Hätten Sie dafür ein Beispiel?
 
Andreas Scholl: Ja, Bachs “Matthäuspassion” mit modernem Orchester. Das liegt mir einfach zu hoch. Obwohl es mir schon oft angeboten wurde, auch mit sehr interessanten Dirigenten … Mit alten Instrumenten und den Halbton tiefer auf 415 Hz? Kein Problem. Natürlich könnte ich es auch einen Halbton höher singen, keine Frage. Aber ich müsste derart technisch singen, um das zu erreichen, und das könnte dann leicht etwas gequält wirken. Also, wie das klingt, möchte ich gar nicht so genau wissen. Jedenfalls nicht mühelos, allenfalls bemüht …
 
KlassikAkzente: Prinzipiell aber kennen Sie keine Berührungsängste mit modernen Orchestern …
 
Andreas Scholl: Nein, überhaupt nicht. Das Wesen der Musik liegt auch wirklich nicht in dem Unterschied zwischen 415 Hz und 440 Hz oder zwischen Darmsaiten und Stahlsaiten: Wenn ich seelenlos musiziere, dann ist das auf modernen Instrumenten genauso schrecklich wie auf alten. Ich habe jetzt in Amsterdam Pergolesis “Stabat mater” mit modernem Instrumentarium gesungen und vorher gedacht: Um Himmels willen, wie wird das wohl klingen?! Am Ende war es wunderbar, weil das Ensemble eben barocken Stil auf modernen Instrumenten gespielt hat. Und ich habe nicht das Geringste vermisst! Weil: Dort wurde mit Seele musiziert, und dann spielt es für mich keine Rolle mehr, ob ich von einer alten oder einer modernen Geige begleitet werde.
 
KlassikAkzente: Also könnte man doch die ganze Diskussion um originale und neue Instrumente, um historisierende oder romantische Aufführungspraxis eigentlich mit dem Hinweis auf die “musikalische Seele” beenden …?
 
Andreas Scholl: Da wäre ich vorsichtig. Denn natürlich glaube ich, dass Musik, die für barocke Instrumente komponiert wurde, auf diesen auch am besten klingt. Es würde heute sicher auch niemand auf die Idee kommen, sagen wir, Beethovens Violinkonzert auf einer Barockgeige spielen zu wollen, oder?! Aber es darf nicht zum Dogma gemacht werden. Wir leben in einer völlig anderen Zeit, und man muss sich immer wieder die Frage stellen, ob es für uns im 21. Jahrhundert von Bedeutung ist, sich distanzlos in die Welt von Menschen des 17. oder 18. Jahrhunderts zu versetzen. Das Schöne an Musik ist doch gerade, dass sie nie “alt” wird. Weil in dem Moment, wo ich mich ans Klavier setze und in die Tasten greife, es einfach wieder “neue” Musik ist. Es geht um die Emotionen, die Musik bei Künstlern und Publikum auszulösen vermag.
 
KlassikAkzente: Wie etwa auf Ihrem jüngsten Album mit geistlicher Musik von Vivaldi.
 
Andreas Scholl: Ja, das ist eine Aufnahme, die mir ganz besonders am Herzen liegt. Das Australian Brandenburg Orchestra und ich hatten eine wunderbare Zeit mit herrlichen Konzerten. Die Musiker haben einen fantastischen Ton, spielen sehr sauber, niemals “out of tune”, und eben alles andere als kratzig wie einige der z.Zt. sehr gefragten europäischen Ensembles … Wir haben uns blendend verstanden, lagen absolut auf derselben Wellenlänge, und ich finde, das kann man dieser Aufnahme vom Fünften Kontinent auch anhören! Hier ist genau das passiert, was ich gerade versucht habe zu erklären: Im Wissen um die musikgeschichtlichen Hintergründe von Vivaldis Musik und deren Interpretation haben wir gemeinsam ein Maß an Emotionalität erreicht, wie ich es mir höher nicht vorstellen kann! Das sind keine musealen Klänge nach dem Motto: “Es war einmal…” , sondern das ist Musik für moderne Menschen von heute und ihre Gefühle. Und ich bin sehr froh, dass uns das gelungen ist.
 
KlassikAkzente: Ein Kollege von Ihnen, Michael Chance, berichtete einmal von seiner Erfahrung an der Mailänder Scala, wo die Blicke des Publikums vom Gesicht nach unten wanderten, sobald er den Mund aufgemacht hatte. Waren Sie schon mal in einer vergleichbaren Situation?
 
Andreas Scholl: Das ist uns wohl allen schon mal passiert. In Schwäbisch Gmünd stand mal ein Kollege neben zwei älteren Damen, die plötzlich sagten: “Ach ja, sche' g’sunge hat er ja. Aber er is scho an armer Kerl!” Oder mitunter schleichen Leute nach dem Konzert um mich herum, und sobald ich ein Wort gesprochen habe, ertönt ein tiefer Seufzer. Diese Leute waren eben ganz neugierig zu hören, wie ich denn wohl spreche. Für sie war das Ganze eher ungewohnt. Da gibt es ein klares Rollenverständnis: Der Mann hat groß zu sein, kräftig, hat einen Bart und spricht mit tiefer Stimme. Die Frau dagegen ist klein, zierlich, hilflos und spricht hoch. Und wenn dann mal ein Mann hoch singt, dann bricht für manche eine Welt zusammen. Aber in dem Maße, wie sich unsere Gesellschaft weiterentwickelt, stellen sich diese und ähnliche Fragen nicht mehr.
 
KlassikAkzente: Aribert Reimann komponierte den Narren in seiner 1978 uraufgeführten “Lear”-Oper für Ihre Stimmlage. In der jüngsten Oper von Peter Eötvös, “Drei Schwestern” nach Tschechow, standen bei der Uraufführung drei Countertenöre auf der Bühne, und auch die Einspielung ist mit Countertenören besetzt. Denken Sie mitunter auch mal in diese, nennen wir’s zeitgenössische Richtung?
 
Andreas Scholl: Sicher werde ich irgendwann einmal zeitgenössische Musik singen. Der Zugang ist für mich sehr schwer, und ich würde es nur machen, wenn ich Teil des Entstehungsprozesses wäre. Zur Zeit schreibt ein italienischer Komponist ein Stabat mater für mich, von dem ausschnittsweise bereits Probeaufnahmen vorliegen. Es ist ein Stück für elektronische Instrumente, Streicher und Schlagzeug. Klingt sehr interessant. Und hierbei ist das Schöne, dass ich von Anfang an dabei bin und die Musik von A bis Z kenne. Das erleichtert vieles und ist darüber hinaus auch noch spannend.
 
KlassikAkzente: Apropos Elektronik: Sind Sie da nicht selbst einmal aktiv gewesen?
 
Andreas Scholl: Na ja, ich war immerhin sieben Jahre lang Mitarbeiter im Studio für elektronische Musik in Basel und habe da auch eigene Stücke komponiert. Und da kamen dann Kollegen zu mir und sagten, sie wollten ein Stück für mich schreiben, was denn meine höchste Note wäre und welches meine tiefste und so weiter. Und heraus kam dann ein Opus, das sich ständig in den Extremen bewegte! Mein Ideal wäre es, einmal einem Komponisten eine halbe Stunde vorzusingen, damit er einen Eindruck von der Expressivität meiner Stimme bekommt. Denn wirklicher Ausdruck lässt sich nicht in Extremen realisieren, im Gegenteil, sie beschneiden einem die Möglichkeiten. Und das will ich einfach nicht.
 
KlassikAkzente: Eine Frage, die mir schon lange auf den Nägeln brennt: Countertenor, Altus, Altist, männlicher Alt – worin liegt denn nun eigentlich der Unterschied, falls es überhaupt einen gibt?
 
Andreas Scholl: Lassen Sie’s mich mal so formulieren: Wir haben keine geschützte Berufsbezeichnung. Ich könnte auch von mir behaupten, ich sei Mezzosopran … Also wie man sich da nennen möchte, das liegt bei einem selbst. Dem Wortsinn nach stammt der Begriff Countertenor aus der frühen Polyphonie – “contra tenor”, und hier wiederum contratenor bassus oder contratenor altus. Und im Prinzip bezeichnet der Begriff einfach nur eine hohe Stimme. Nicht mehr und nicht weniger.

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