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Andy Warhol

Warhol – Tagebuch: Eins durch Kunst

Andy Warhol
03.08.2006
Andy Warhol veränderte das Bewusstsein. Seine Vorstellung, Kunst als Massenware zu betrachten, nivellierte die romantischen Mythen des kreativen Originalgenies, und definierte Produktion und Konsum unter neuen Voraussetzungen. Das Unikat wurde bedeutungslos, ebenso der einzelne, der es herstellen konnte. Warhol postulierte die Postmoderne, nannte sie Popart und präsentierte sich nach außen als die perfekte Inszenierung einer öffentlichen Person. Sein Tagebuch allerdings differenziert diesen Blick und lässt hinter der Fassade den Skeptiker durchscheinen. Nun ist die gekürzte Fassung dieser Chronologie eines Jahrdutzends der amerikanischen Kunstgeschichte als Hörbuch erschienen: Fünf Stunden Witz, Lakonik, Tratsch aus der Sicht eines Motors der Kultur- und Zeitgeschichte.

Das Manuskript des Tagebuchs umfasst rund 20 000 maschinengeschriebene Seiten. Es wurde von der Agentin Pat Hackett aufgezeichnet, die es sich von Herbst 1976 an zur Gewohnheit gemacht hatte, wochentags jeden Morgen bei Andy Warhol anzurufen und mit ihm über den vorangegangenen Tag zu reden. Er nannte es ihren “Fünfminuten-Job”, auch wenn es nur selten vorkam, dass sie weniger als eine Stunde lang telefonierten. So wurde über rund zwölf Jahre hinweg jeder Tag festgehalten, abgewogen, eingeschätzt, von kurzen Bemerkungen bis hin zu ausgedehnten Reflexionen über Kunst, Gesellschaft, Politik. Warhol machte wenig Unterschiede, gemäß seines Mottos “Alles ist nett”, und beschrieb weltbewegende Ereignisse mit der selben Coolness wie den Tratsch beim Friseur. Und er fügte regelmäßig Anmerkungen zu seinen Ausgaben etwa fürs Taxifahren bei, denn die Aufzeichnungen waren nicht vorrangiges als persönliches Statement, sondern auch als Rechenschaftsbericht für eine mögliche Steuerprüfung gedacht. So entstand eine eigenwillige, manchmal kuriose Mischung von scharfsinnigen Betrachtungen alltagsphilosophischer Natur, Beschreibungen beiläufiger Beobachtungen, spöttischer Bemerkungen über die amerikanische Kultur-Society, nebensächlicher Details und buchhalterischer Akkuratesse.

Andy Warhol starb am 22. Februar 1987 in New York. Auch sein Tod passiert in seinem Tagebuch mit der gewohnten Lakonik. Der Künstler hat Schmerzen, nimmt Tabletten dagegen, verschläft den morgendlichen Telefontermin, wird als akuter Fall von Gallenproblemen in eine Klinik eingeliefert und verlässt diese Welt im Alter von 58 Jahren. Für die Kulturszene war das lediglich eine graduelle Verschiebung, schließlich hatte sich Warhol als inszenierte Persönlichkeit menschlich auf Distanz gehalten. Er war zum Emblem geworden, ebenso wie seine Bilder, Filme, Aktionen, und ist als solches bis heute in der Kunstwelt präsent. Nur in seinem Tagebuch gesteht er sich gelegentlich allzu menschliche Regungen ein, empfindet Trauer über viele verflossene Freunde, pubertiert wie ein Teenager, wenn es um die Liebe geht. Diese auf Lässigkeit und Fassade angelegte, insgeheim jedoch verletzliche Person wird von Peter Fricke derart mitempfindend gelesen, dass man bereits nach wenigen Tagebucheinträgen das Gefühl bekommt, hier spräche der Autor selbst. Die sinnvoll auf etwa 5 Stunden beschränkte Hörbuchversion entstand ursprünglich 1992 für den Südwestfunk und ist nun in einer Edition auf 4CDs unter dem Titel “Andy Warhol – Das Tagebuch” erschienen. Nur stellenweise durch ein paar Geräusche und von Annette Ziellenbach gelesene Einwürfe ergänzt, präsentiert es eine Kultfigur an der Epochenschwelle zur Gegenwart aus einer Innenperspektive, die manches erst verständlich macht, was den Kunstdiskurs der vergangenen Jahrzehnte bestimmte.