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Anna Netrebko mit “Menschen in Europa” Award 2012 ausgezeichnet

Anna Netrebko bei der Verleihung des "Menschen in Europa" Awards
© Toni Scholz
05.11.2012
Am 23. Oktober wurde Opernstar Anna Netrebko mit dem „Menschen in Europa“-Kunst Award in Passau ausgezeichnet. Die Laudatio hielt Nikolaus Bachler, Intendant der Bayerischen Staatsoper München. Lesen Sie hier die Rede, die er Anna Netrebko widmete:

„Menschen in Europa, das sind wir alle!!
Wäre nicht hier in Passau, einer europäischen Grenzstadt, an der Donau gelegen, diesem gleichermaßen Grenzfluss wie Verbindungsader des alten Kontinents, dieses Forum zur Völkerverständigung “Menschen in Europa“ mit dem dazugehörigem Award 1996 gegründet worden, man müsste es heute tun.

Wir bedürfen einer solchen Einrichtung gerade jetzt mehr denn je. Wenn wir heute Europa hören, lesen, sehen, dann hören wir vor allem Begriffe wie: Krise, Euro, Schulden, Banken, Geld, Wirtschaft.
Wir hören nicht Begriffe wie Menschen, Kulturen, Solidarität, Mitgefühl und was wir schon gar nicht hören, ist das Wort Herzensgröße.
Wenn ich an Anna Netrebko denke, die ich die Ehre habe hier heute zu preisen, über deren Lebens- und Berufsweg ich sprechen darf, so ist der Begriff, der sie für mich zuallererst beschreibt, noch vor ihrer Begabung, ihrer Persönlichkeit, ihrer Kunst: Herzensgröße. Das ist ihr Zauber, das ist ihr Geheimnis.
Als Anna Netrebko im Jahre 2002, damals in Petersburg schon eine wichtige junge Sängerin, bei den Salzburger Festspielen als Donna Anna in Mozarts „Don Giovanni“ sozusagen die große Weltbühne betrat, ging für alle ein Stern, nicht nur am Opernhimmel, sondern in der Welt auf. Da stand diese wunderschöne Frau mit dieser begnadeten Stimme, mit Anmut und Schmelz und spielte diese verletzliche, starke Figur, die sinnigerweise ihren Namen trägt, und war ganz sie selbst. Sie berührte die Menschen noch bevor sie sie beeindruckte. Und da stand – und das war das revolutionär neue – keine Operndiva in der bekannten Form, sondern eine moderne junge Frau.

Vergleichbar war wohl das Erscheinen einer Marilyn Monroe in den 50er Jahren, wo plötzlich die Welt etwas anderes sah und spürte, als man bisher gekannt hatte. Ganz im Einklang mit der Zeit und ihren Gefühlen erreichen uns solche Künstler direkter und stärker, weil sie etwas Gegenwärtiges zum Klingen bringen. Und das ist bis heute so geblieben.
Anna Netrebko ist Russin, in Krasnodar geboren, auf den wunderschönen Namen Anna Jurevna, der uns sofort, wenn wir ihn hören, in die Welt Tolstois entführt und Russin wird sie bei allem kosmopolitischen Leben immer bleiben.
Für mich und meine jungen Schauspielkollegen am Wiener Reinhardtseminar in den 70er Jahren war das künstlerische Interesse immer nach Osten, nach Russland gerichtet. Amerika hat uns nie interessiert. Weder kulturell noch politisch. Dostojewski und Tschaikowski, Puschkin und Rachmaninow, Tschechov und Stravinski. Das war unsere Referenz, unsere geistigen Bodenschätze.
Und natürlich die genialen Interpreten, Musiker, Sänger, Schauspieler, vor allem die russisch jüdischen, die uns das letzte Jahrhundert grausam für immer geraubt hat. Wir mussten in den siebziger und achtziger Jahren aber auch lernen, dass die Ideale der französischen Revolution, Gleichheit und Brüderlichkeit, ohne Freiheit nicht zu erreichen sind: Genauso wie wir heute hier lernen müssen, dass der neoliberale Irrsinn des Marktes und der reine Götzdienst an materiellen Gütern ebenfalls keine Gleichheit und schon gar keine Brüderlichkeit erzeugt, und dass letztlich auch die Freiheit zur Schimäre wird. Und was all das ganz verhindert, ist das Glück.
Und hier setzt die Kunst ein in ihrer Kraft, die nach Friedrich von Schiller ihrem Inhalt und ihrer Schönheit nach mit Humanität gleichzusetzen ist. Der Mensch ist nach Schiller nur dort ganz Mensch wo er spielt. Und wo er spielt, erzählt auf der Bühne der Mensch vom Menschen. Und Anna Netrebko erzählt, wenn sie die Bühne betritt, immer vom Menschen, ganz persönlich, ganz tief von seinen Freuden, seinen Leiden, seiner Lust und seinen Abgründen. Kraft ihrer unbedingten Natürlichkeit verwandelt sie mit hoher Kunstfertigkeit und ihrem großen strömenden Herzen all ihre Figuren in lebendige blutvolle Wesen, die uns nahe kommen, weil wir uns in ihnen spiegeln. Und mit dieser wundersamen, farbenreichen Stimme, die eigentlich alles kann, so mühelos scheinbar, so leicht, aber niemals leichtfertig, geht sie den Weg über unsere Emotionen und Gefühle in unsere Gedanken und unsere Seelen.
Ihr Repertoire ist so groß wie der Facettenreichtum an Frauen, die es auf der Welt zu geben scheint, „tausendunddrei“ möchte man mit Don Giovanni sagen, und jede gestaltet sie anders, liebevoll und persönlich.

Wenn Anna ein Opernhaus betritt, und damit meine ich noch gar nicht die Bühne, sondern das Gebäude, so wird es heller im Haus. Ihr Lachen, ihre Lust, ihr Arbeitssinn und Geist sind ansteckend für alle, die mit ihr zu tun haben, und sie ist so verschwenderisch in ihrem menschlichen Umgang. So großzügig, als hätte sie ein nie versiegendes Herz. Sie strahlt eine grenzenlose Wärme aus, die sich aus sich selbst zu nähren scheint. Wenn sie mir eine kleine private Bemerkung erlauben.
Man weiß wie schwer es Kinder mit Eltern in großen Karrieren haben, ganz gleich ob in Kunst, Politik, oder Wirtschaft. Es fehlt an Zeit, an Konzentration, an Hingabe, oft auch an Liebe. Wer einmal Anna Netrebko mit ihrem kleinen Sohn erlebt hat, möchte sie – und nur sie – zu Mutter haben. Man erkennt sofort, wo die Priorität ihres Lebens liegt und wie sie bei all dieser unglaublich verzehrenden Weltkarriere die Liebe und völlige Hingabe zu ihrer Familie lebt. Und das macht sie nicht schwächer, sondern unendlich stärker.
Und deshalb war es auch naturgemäß, dass Anna Netrebko und Erwin Schrott sich sozial engagieren und ihre Popularität in den Dienst der Allgemeinheit stellen. Die „Anna and Erwin Foundation“ ist eine Kinderhilfsstiftung und kommt bereits jetzt, obwohl noch sehr jung, Kinderdörfern, einem Kinderkrankenhaus in Petersburg und österreichischen wie spanischen Kinderhilfsstiftungen zugute.
„Ein Traum wird wahr“ sagt das Künstlerpaar. Und dass dieser „Traum“ seinen Sitz hier in Bayern hat, ist ein besonders schöner Umstand für den heutigen Tag und diese Auszeichnung. Anna ist wahrlich ein Mensch und eine Künstlerin in Europa und auf der Welt. Singend wie Orpheus überschreitet sie alle Grenzen, verständlich in allen Ländern, leichtfüßig und heiter schenkt sie dem Publikum das kostbarste, was man geben kann: Freude, Klarheit und Wahrhaftigkeit. Und noch etwas zeichnet sie aus: Mut!!
Sie ist kühn im Spiel, im Gesang und in ihren Rollen. Sie ist kühn als Frau, die dem Leben lustvoll die Stirn bietet. Angstfrei, weil sie weiß, sie kann sich auf sich verlassen. Sie hat einen Kompass, der sie nie in die Irre leitet… ihr Herz. Die Menschen suchen in der Oper das Außergewöhnliche. Das, was sie ihrem Alltag entfliehen lässt, was sie bewegt und begeistert, aber auch das, wo sie sich in ihrem Denken und Fühlen wieder finden können.
Dazu braucht es einen Mozart, einen Verdi, einen Wagner und Künstler wie Anna Netrebko, die mit Gesang und wahrem Spiel die Bühne zum Schauplatz des Lebens verwandeln. Unseres Lebens, gleichviel ob in alten oder neuen Geschichten. Anna steht mit starken Wurzeln fest auf dem Boden des Lebens und daher kann sie fliegen und nimmt uns alle auf den Flug mit durch Sphären, die uns für einen Abend ebenfalls wahrer, schöner und besser machen.
Don Ottavio singt bei Mozart in seiner berühmten Arie „Dalla sua pace“ am Schluss: E non ho bene, s’ella non l’ha. Kein Glück auf Erden, kenn ich ohne sie… Das können und dürfen wir alle über Anna Netrebko sagen.“

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