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Arvo Pärt – Alina

05.11.2004
Zu den Urgründen der Musik führen diese Klänge. Die sich ihnen zuwenden, tauchen tief ein in die Welt des Arvo Pärt, zurück an die Wurzeln des “tintinnabuli”-Stils (benannt nach dem lateinischen Wort für Glöckchen). Es ist die Welt des Dreiklangs, linearer Melodik, schwebender Langsamkeit und Stille. Ein riskantes Abenteuer des Hörens, das belohnt wird mit einer vorher nicht gekannten Ahnung, was Musik sein kann und woher sie kommt.
“Für Alina” wurde 1976 in Tallinn uraufgeführt – Pärt hatte gerade sein viertes Lebensjahrzehnt hinter sich, als er zu dieser neuen Sprache fand -, “Spiegel im Spiegel” entstand 1978. Das Klavier mit seinem glasklaren Diskant und liegendem Bass, in Einzeltönen, gebrochenen Dreiklängen, weit auseinander gezogenen, lichten Akkorden gibt den Ton an. In “Spiegel im Spiegel” tritt es in den Dialog mit einem Streichinstrument; in einen Dialog, ebenso durchhörbar, aufeinander bezogen, ineinander dringend, als sei es ein einziges Instrument. Der besondere Reiz dieser Aufnahme von 1995 liegt jedoch – neben den herausragenden Interpreten – in der Dramaturgie, man könnte auch sagen, in der Dramatik, aber einer leisen, gedehnten, um so intensiver wahrnehmbaren dramatischen Spannung. Die beiden Werke erklingen nämlich mehrfach, in ihrer spiegelbildlichen Anordnung der Komposition “Spiegel im Spiegel” entsprechend.

Vladimir Spivakov, Violine, dem “Spiegel im Spiegel” gewidmet ist, und Sergej Bezrodny, Klavier, spielen das Werk zum Eingang. Ganz weich und ruhig ziehen die Töne dahin. Ein Klangraum wächst, über dem Kontinuum des Tasteninstruments blüht, als werde sie mit den Bogenstrichen eben erfunden, eine Kantilene. Zehn Minuten sechsunddreißig Sekunden. Dann folgt “Für Alina”. Der Pianist Alexander Malter, mitschöpferisch beteiligt, spielt die glockenartig schwingenden Töne, auch er, als suche er, erprobe im Hören, wie es weitergehen könnte. Das hat eine entrückende Wirkung, aus der Zeit heraus, in ein unberührbares Reich mathematisch-physikalischer Klarheit, besser noch beschrieben mit dem französischen clarté. Zehn Minuten siebenundvierzig Sekunden. Im Zentrum steht “Spiegel im Spiegel”, jetzt gespielt von Dietmar Schwalke, Violoncello, und Alexander Malter. Bestimmter im Strich, kaum, aber doch wahrnehmbar beschleunigt, in neuem Licht. Neun Minuten zwölf Sekunden. Wieder Alexander Malter, “Für Alina”. Staunendes Erkennen von winzigen Varianten, zehn Minuten dreiundfünfzig Sekunden. In der Anfangsbesetzung schließt “Spiegel im Spiegel” die verzaubernde Hörstunde. Neun Minuten achtundvierzig Sekunden. Die Zeit scheint stehen geblieben, selbst wenn man die “repeat”-Taste drückte. Wie der griechische Philosoph Heraklit wusste, dass man nicht zweimal in denselben Fluss steigen kann, so glaubt man jetzt mit Arvo Pärt zu wissen: Man kann nicht zweimal denselben Ton, sondern diesen immer nur neu hören.
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