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“Der Dialog geht weiter” – Werke von Bryce Dessner und Jonny Greenwood

Bryce Dessner
© Anne Mie Dreves / DG
05.03.2014
“Wir leben endlich wieder in einer normalen Situation, wo das Fenster zwischen Straße und Konzerthalle geöffnet ist”, sagte Steve Reich im vergangenen Jahr in einem Interview über seine Komposition “Radio Rework”. Und in einer Programmnote zu seinem von Liedern der Rockband Radiohead inspirierten Werk führt er weiter aus: “Elektrische Gitarren, elektrische Bässe und Schlagzeuge gehören nun zusammen mit Samplern, Synthesizern und anderen elektronischen Klangprozessoren zur notierten Konzertmusik. Der Dialog geht weiter.”
Der Austausch zwischen den Sphären “notierter” und “handgemachter” Musik besteht seit Menschengedenken, meint der streitbare Komponist. Während der Phase von Zwölfton- und serieller Musik sei er lediglich für kurze Zeit unterbrochen gewesen. Steve Reich (geboren 1936) ist Wegbereiter der Minimal Music und einer der bekanntesten Komponisten der Gegenwart. Erstmals überhaupt hat er sich nach eigenem Bekunden für “Radio Rework” (2012) Einflüssen aus der Rockmusik geöffnet.

Vertreter einer neuen Komponistengeneration

Ein spätes Signal zur richtigen Zeit. Dass es seiner indes kaum bedurfte, wissen alle, die das Schaffen von Bryce Dessner und Jonny Greenwood während der letzten Jahre verfolgt haben – auch Steve Reich, spätestens seit Greenwood ihn mit einer Interpretation von “Electric Counterpoint” bei einem Festival in Krakau so stark beeindruckte, dass er die Filmmusik für “There Will Be Blood” aus der Feder des Briten mit Begeisterung hörte (“Das klang wie jemand, der seinen Messiaen gehört hat. Ich hätte nie angenommen, dass diese Musik von einem Rocker stammt.”) und schließlich auch Gefallen an Radiohead, Greenwoods Band, fand.
Bryce Dessner (geboren 1976) und Jonny Greenwood (1971) gehören zu den tonangebenden Rockgitarristen unserer Tage und begeistern als Solokünstler mit Werken für Orchester und Kammerensembles seit einigen Jahren Hörer unterschiedlichster musikalischer Lager. All jenen, die bislang nichts von den beiden gehört haben, bietet sich nun mit “St. Carolyn by the Sea”, dem Doppeldebüt der Musiker beim Klassiklabel Deutsche Grammophon, das Dirigent André de Ridder mit dem Copenhagen Phil eingespielt hat, die Gelegenheit dazu.
“Jonny Greenwood und ich gehören zu einer neuen Generation von Komponisten, deren Background, Ausbildung und Interessen so mannigfaltig sind, dass man nicht mehr wirklich sagen kann, dieser Typ kommt aus einer Rockband und schreibt klassische Musik”, erklärt Bryce Dessner. “Denn das Gegenteil ist der Fall. Jonny Greenwood war ein klassischer Bratschist, der Gitarrist bei Radiohead wurde. Aber er interessiert sich nach wie vor für Ligeti und Penderecki.”

Werke von Bryce Dessner

Dessner gründete 1999 mit seinem Bruder Aaron und drei Freunden die US-amerikanische Band The National. Zuvor hat er einen Master in Musik an der Yale University gemacht, wo er klassische Gitarre, Flöte und Komposition studierte. Neben der Arbeit für seine international erfolgreiche Band spielte er im zeitgenössischen Ensemble Bang on a Can und kollaborierte mit Komponisten wie Nico Muhly und David Lang. Enthusiastische Aufnahme fand sein Album “Aheym” (2013) mit Kompositionen für das Kronos Quartet.
Bryce Dessner realisiert in seinen Werken für E-Gitarre und Orchester eine unerhört organische Integration des Rockinstruments in die notierte Konzertmusik. Er nutzt dazu einen elektrisch verstärkten Gitarrenklang, der auf Verzerrungs- und Rückkoppelungseffekte weitgehend verzichtet. So fügt sich die E-Gitarre als glockenartige Klangfarbe wunderbar in die Palette der herkömmlichen Orchesterinstrumente ein. “Ich habe kein Interesse daran, Stilmittel des Rock in meine Musik zu importieren”, stellt Dessner klar.
Im Titelstück “St. Carolyn by the Sea” entfaltet sich mit unwiderstehlicher kinetischer Energie, die aus der Wiederholung variierender Motivzellen erwächst, ein dramatisch anschwellender Dialog zwischen E-Gitarre, Streichern und Blech. Die Gitarrenparts hat Dessner gemeinsam mit seinem Bruder Aaron eingespielt. “Raphael”, entstanden beim Experimentieren mit einem verstimmten Harmonium, basiert auf einem warmen Drone-Klang, der sich zu einem rauschenden orchestralen Klangmeer weitet. “Lachrimae”, ein Werk für Streicher, bezieht sich auf das gleichnamige Lautenstück von John Dowland und atmet den Geist von Bartóks Divertimento, das Dessner für die bedeutendste Streicherkomposition hält.

“There Will Be Blood” von Jonny Greenwood

Jonny Greenwood hat die Evolution der britischen Band Radiohead von einem Aushängeschild des Britpop hin zu einer Formation, die avantgardistische Kompositionstechniken mühelos in ihre Musik integriert, maßgeblich mitbestimmt. Als Solokünstler mit ungewöhnlicher Experimentierfreude und großem kompositorischen Talent zeigte er sich erstmals mit seiner Musik für den Film “Bodysong” (2003). Aus seiner Bewunderung für Krzysztof Penderecki hat sich eine künstlerische Freundschaft entwickelt. Sie fand ihren Ausdruck in gemeinsamen Konzerten und einem Album, das Pendereckis “Threnos” und “Polymorphia” sowie von ihnen inspirierte Werke Greenwoods gegenüberstellt.
“Wenn ich über die Musik der Zukunft nachdenke, stelle ich mir oft vor, dass sie keine Elektrizität enthält”, sagt Greenwood. “In einer dystopischen, post-apokalyptischen Zukunft nehmen Menschen Instrumente aus einem Kasten und spielen sie. Aus meiner Sicht ist das sehr bizarr und zugleich modern.” Sein Soundtrack für den Film “There Will Be Blood”, hier vorliegend in Form einer Suite für Streichorchester, wiegt den Hörer in einem falschen Sicherheitsgefühl. Immer wieder schaukelt sich die Entwicklung zu Höhepunkten hoch, gewährt aber letztlich keine Auflösung. Diese Musik lässt den Hörer ebenso benommen und beunruhigt zurück wie Paul Thomas Andersons filmische Parabel über die menschliche Gier.

Inspirierende Nähe zwischen Komponist und Werk

André de Ridder spricht begeistert über die Aufnahmen. “Meistens hat man ja die Situation, dass der Komponist mit der Partitur hinten im Publikum sitzt und seine Kommentare gibt. Ich finde es schön, wenn der Komponist direkt vor mir sitzt und ich mit ihm kommunizieren und auch gemeinsam musizieren kann”, sagt er gerade im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit Dessner. “Erst in der Spätklassik wurde der Komponist zu diesem Genius, der sich von der Aufführung entfernte. Es ist schon ironisch, dass dieses Prinzip mit der Rockmusik zurückkehrte, denn da ist der Komponist fast immer zugleich der Interpret seiner eigenen Musik. Diese beiden Welten liegen eigentlich viel näher beieinander, als viele Leute denken.”
Das Album “St. Carolyn by the Sea” mit Werken von Bryce Dessner und Jonny Greenwood erscheint am 07.03.
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