Frank Chastenier | News | From New York with Love

From New York with Love

Frank Chastenier, Songs I Always Loved
© by Till Brönner
06.12.2010
James Gavin ist einer der bekanntesten amerikanischen Jazz-Journalisten. Er schreibt für die „New York Times“, „Vanity Fair“ und viele andere. Seine Bücher über Chet Baker und Lena Horne gelten als Standard-werke. Gavin ist ein Fan des deutschen Pianisten Frank Chastenier, hier erklärt er warum.

Text: James Gavin | Fotos: Till Brönner (Frank Chastenier) & Stephen Paley (James Gavin)

Einer meiner engsten Freunde ist der Jazzsänger Mark Murphy. Ich verdanke Mark sehr viel, nicht zuletzt tiefe Einsichten in das Denken und Fühlen eines Mannes, der seit über fünfzig Jahren ein intensives Jazzleben führt. Ohne Mark hätte ich auch nie einen Musiker kennengelernt, den ich für genauso einzigartig halte: Frank Chastenier aus Deutschland.

Der Jazz hat sich über Jahrzehnte hinweg den Respekt erkämpft, der ihm zusteht. Aber irgendwo auf dem Weg hat er einiges an Seele verloren. Sogar in meiner Heimatstadt New York, wo Bebop und Free Jazz geboren wurden, klingt diese Musik heutzutage mehr nach Konservatorium als nach einem Ausdruck dessen, was man mal „jazz life“ nannte. Die Straße, die Generationen von Jazzmusikern bereisten, war oft hart, aber sie gab ihnen auch viel zu erzählen und auszudrücken mit.

Wie kommt es nun, dass Frank Chastenier, der 1966 geborene Pianist, Jazz mit einer solchen Seele und Tiefe spielt, die ich fast überall sonst vermisse? Es ist ganz sicher nicht die Folge eines Lebens voller Leid und Aufruhr. Seit 1991 genießt Frank die Vorzüge einer Festanstellung bei der WDR Big Band in Köln. Er ist mit der „großartigsten Frau der Welt“ verheiratet; beide leben mit der gemeinsamen Tochter im Teenageralter in einer beschaulichen Kleinstadt in der Nähe von Köln, wo Frank auch aufwuchs.

Eigentlich liegt nichts ferner, als dass solch ein offensichtlich zufriedener Mensch sich zu Songs voller Sehnsucht und Verzweiflung hingezogen fühlt und sie mit größtmöglicher Verletzlichkeit interpretiert. Frank erklärt es so: „Ich liebe Melodien, und ich bin eher der melancholische Typ.“ Genau­so wie Miles Davis, Blossom Dearie und Shirley Horn ist auch er ein Minimalist; die stillen Momente seiner Musik sind min­destens so mitteilsam wie die lauteren. „Bei Frank gilt ‚weniger ist mehr‘, deshalb zählt jede Note“, meint Nan Schwartz, die amerikanische Arrangeurin, deren Streicher für ihn den Hintergrund bei diversen Projekten gebildet haben. Und Frank ergänzt: „Normalerweise singe ich bei den Linien und Melo­dien, die ich spiele, mit. Und wenn man singt, muss man atmen. Das ist einer der Gründe dafür, dass ich nur die Noten spiele, die ich fühle, und nicht irgendwelche Skalen, nur weil meine Finger sie bewerkstelligen. Wenn ein Publikum von meiner Musik berührt wird, ist das der größte musikalische ‚Thrill‘, den ich mir vorstellen kann“.

Viele Jahre hat es Frank nicht zu einer Solo-CD unter eigenem Namen gedrängt, er fühlte sich stets wohler außerhalb des Rampenlichts. Bis zum Jahre 2004, als sein Debüt-Album „For You“ erschien, co-produziert von Till Brönner, einem Freund seit der gemeinsamen Teenagerzeit. Die „Jazzthetik“ nannte die CD „das vielleicht wichtigste deutsche Jazzalbum der letzten zehn Jahre“. Die meditative, entrückte Stimmung des Vorgängers setzt sich jetzt fort auf „Songs I’ve Always Loved“, Franks zweitem Album auf Emarcy. Erneut co-­produziert von Brönner, bringt es Frank wieder mit der Rhythm Section seiner WDR Big Band, Bassist John Goldsby und Drummer Hans Dekker zusammen. Chasteniers ehemaliger Klavierschüler Wieland Reissmann und Nan Schwartz steuern die Streicher-Arrangements bei.

Die Songauswahl belegt Franks ungewöhnlich ausgefeilten und vielseitigen Musikgeschmack; sie beinhaltet Operetten-Themen, musikalische Markenzeichen von Jacques Brel und Edith Piaf, amerikanische Standards und Franks zarte eigene Miniatur „Little Prelude“. Sogar seine Ausflüge in den Bereich der kommerziellen Popmusik sind kleine Offenbarungen. Auf „For You“ transformierte er Herbert Grönemeyers Monsterhit „Mensch“ in eine langsame, sinnliche Meditation. Etwas ganz ähnliches gelingt ihm auf der neuen CD mit „Mornin’“, Al Jarreaus R’n’B-Ohrwurm von 1983. „Eigentlich ist das ein fröh­licher Love Song mit lebendigem Groove“, sagt Frank, „aber ich zeige seine sentimentale Seite“.

Das Gefühl von Traurigkeit mag Frank Chastenier anziehen, seinen musikalischen Weg fand er jedoch ohne Schmerz und Zweifel. In ganz jungen Jahren lernte er die Hammond-B3-Orgel zu spielen und tauchte tief in die väterliche Schall­plattensammlung ein. Mit 13 Jahren wurde er Mitglied im Landesjugendjazzorchester NRW, wo er Till Brönner traf. Später wurde er Mitglied im Bundesjugendjazzorchester („Bujazzo“) unter der Leitung von Peter Herbolzheimer. Dann begannen seine Jahre beim WDR.

Ein Ensemble wie die WDR Big Band gibt es in den ganzen USA nicht; die Musiker arbeiten fest von Montag bis Freitag an stets wechselnden Projekten. „Es kann durchaus passieren, dass ich innerhalb von zwei Monaten mit Gary Burton, Mike Stern, Maceo Parker, Patti Austin und Wolfgang Niedecken arbeite, allesamt völlig unterschiedliche Musiker mit ebenso unterschiedlichen Stilen und Musikverständnissen“, sagt Frank. Dieser Beruf ermöglicht es ihm auch, seine anderen musi­ka­lischen Seiten zu zeigen, nicht zuletzt sein Talent, die Hammond­orgel zum Glühen zu bringen. Ein eindrucksvoller Beweis ist „Hallelujah, I Love Her So“, einer der Tracks auf „Roots and Grooves“, einer Kollaboration zwischen James Browns ehema­ligem Altsaxophonisten Maceo Parker und der WDR Big Band. Meist aber ist Frank der stabile Pol inmitten des energiegeladenen Orchesters.

Frank bezeichnet „Songs I’ve Always Loved“ als „den Sound­track meines Lebens“, wegen seiner vielfältigen emoti­o­nalen Verbindungen zu den Songs. „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“ aus dem Film „Der blaue Engel“ – außerhalb Deutschlands als „Falling In Love Again“ bekannt – erinnert ihn an „die großen Komponisten, die wir mal in Deutsch­land hatten, wie Friedrich Hollaender und Kurt Weill, und die großen Autoren wie Kurt Tucholsky, Thomas und Heinrich Mann und Erich Kästner, bevor die Nazis diese Kultur abgewürgt haben. Manchmal wünschte ich, ich könnte ein paar Tage im Berlin der 20er Jahre leben, nur um einmal das Gefühl und die Gerüche dieser Zeit zu spüren.“ Franks über­raschende Harmonien bringen einen Hauch von Ruhelosigkeit in diesen sonst so selbstbewusst-sinnlichen Song. John Goldsby und Hans Dekker tragen ihren Teil zu der mysteriösen Grund­stimmung bei. „Mein Trio mit John und Hans gehört zu den besten Dingen, die mir in meinem Leben passiert sind“, sagt Frank, „weil wir zusammen atmen, wenn wir spielen“.

Der gefühlstrunkene Evergreen „Dein ist mein ganzes Herz“ stammt aus Franz Lehars Operette „Das Land des Lächelns“, die Frank erstmals als Kind zu Gehör bekam, sonntagnachmittags im Fernsehen. Nan Schwartz’ silbrig-seidige Streicher sind so subtil, dass man sie mehr zu fühlen als zu hören meint. „Frank lässt einem eine Menge Raum“, erklärt Nan. „Das heißt nicht, dass du diesen Raum auch immer füllen musst, aber da ist eine Menge Platz für meine Farben.“ Die beiden lernten sich vor ein paar Jahren bei den Aufnahmen von Mark Murphys Verve-CDs „Once To Every Heart“ und „Love Is What Stays“ kennen, zwei Projekten, die Till Brönner anstieß und produzierte. „Die Auf­nahmen mit Mark Murphy sind absolute Höhepunkte für mich gewesen“, sagt Frank. „Ich wünschte, ich würde so Piano spielen, wie er singt!“

Von einem anderen Meister der herzzerreißenden Ballade, Jacques Brel, stammt „Ne me quitte pas“, ein Song, der Frank tief berührt. Seine beinahe erschreckend emotionale Inter­pretation macht das für jeden aufmerksamen Hörer nachfühlbar. Gegen den lautstark vorgetragenen Schmerz der Originalversion stellt er eine ganz leise Intensität, das genaue Gegenteil von Melodrama. Ob Frank es darauf anlegt oder nicht, ich bin überzeugt, dass Aufnahmen wie diese unausweichlich dazu führen werden, dass Frank in den kommenden Jahren noch viel mehr Aufmerksamkeit genießen wird als bereits jetzt. Er hat es verdient, denn er bringt Gefühl und Wahrheit in eine Musik zurück, deren größtes Gut viel zu lange die Technik war.

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