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Diesseits, Jenseits

11.02.2005
Hélène Grimaud gibt sich nicht damit zufrieden, eine der besten Pianistinnen ihrer Generation zu sein. Die Wahlamerikanerin aus Aix-en-Provence sucht nach den Sphären hinter der Musik – klanglich wie literarisch mit ihrer Mitte Februar erscheinenden Autobiografie Wolfssonate – und findet sie mit sicherem Blick für das Besondere. Ihr aktuelles Programm stellt zwei Kompositionen an der Grenze zwischen Klang und Transzendenz in den Mittelpunkt, zwei Werke, die mit Tod und Vergänglichkeit als Thema den Rahmen der rational fassbaren Wirklichkeit sprengen: die jeweils zweiten Sonaten von Frédéric Chopin und Sergei Rachmaninov.
Es ist auch ein Weg zurück an die eigenen Wurzeln. Als Hélène Grimaud Mitte der Achtziger Jahre als eines der wundersamen Talente am Pariser Konservatorium lernte, gehörten Chopin und Rachmaninov zu den zentralen Komponisten ihrer Ausbildung. Empfindungsstark und leidenschaftlich packten deren hoch- und neoromantischen Werke sie bei ihrem Ehrgeiz. Das ging soweit, dass sie Rachmaninovs zweite Klaviersonate im zarten Alter von 15 Jahren zum ersten Mal aufnahm, emphatisch und mit dem Charme jugendlicher Unmittelbarkeit. Dann aber wandte sie sich neuen Themen zu, bis sie über Umwege wieder an die juvenile Liebe erinnert wurde: “Die Idee hatte ich in Japan, wo ich ein Chopin-Recital von Maurizio Pollini hörte. Ich hatte Chopin seit meinem 17. Lebensjahr nicht mehr angerührt. Seither riet man mir ständig, ihn wieder zu spielen und ich entgegnete immer, dass ich ihn nicht aufgegeben habe und dass es nur eine Frage der Zeit sei. Während ich Pollini zuhörte kam mir der Gedanke: ‘Warum beraubst du dich dieser Musik?’ Es war ein Augenblick von fast erschreckender Klarheit und Bedeutung. Die Eindringlichkeit, mit der Pollini Chopins Sonate Nr.2 spielte, seine sangliche, schmerzliche Intensität, weckten meine alte Liebe wieder. Ich beschloss auf der Stelle, mich erneut mit Chopins Welt zu befassen, und erkannte, dass die b-moll-Sonate wunderbar zu Rachmaninovs Sonate Nr.2 passte”.
 
Beide Werke gehören zu den großen Melodramen der Klavierliteratur, melancholisch in der Anlage, übergreifend in der Durchführung. Dabei liegt das Thema der Vergänglichkeit nicht nur durch den berühmten Chopinschen Trauermarsch nahe, sondern auch durch die Art, mit der beide Komponisten die Konventionen der zeitgenössischen Komponierkunst verlassen: “Die instabile, fast dissonante Harmonik dieser Werke, die an die Trennung von Schmerz und Existenz erinnert, ist Merkmal eines Schreis, der seinen Rhythmus gefunden hat. Sie ist Vorbereitung auf den Tod, aber zugleich auch Schutz vor ihm. Denn diese Werke sprechen so viel vom Tod, das sie uns die Augen für die Ewigkeit in uns selbst öffnen. Sie verwandeln die Angst in Hoffnung, sie verklären unsere Vorstellung von Leid, sie bieten uns die Möglichkeit der Versöhnung”. Dabei hat Grimaud nicht den Reiz des Morbiden im Sinn, sondern die Balance der Gefühlslagen. Deshalb belässt sie es auch nicht bei der Interpretation der beiden Sonaten, sondern fügt ihnen als Ausleitung Chopins “Berceuse op.57” und “Barcarolle op.60” hinzu. Das eine ist eines der zärtlichsten und zerbrechlichsten Werke des für seine Wucht und Nachhaltigkeit bekannten Komponisten, das andere gehört in seiner harmonischen und melodischen Vielfalt zu den rätselhaftesten Klangerscheinungen der Romantik. Zusammen ergibt sich daher ein Hörbild zwischen gestern und morgen, zwischen Diesseits und Entrückung. Eine außergewöhnliche Leistung einer Visionärin der musikalischen Deutung.

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