I Blame Coco | Biografie

Biografie I Blame Coco

Ende 2009 schaute ein unerwarteter Gast im Proberaum von I Blame Coco im Norden von London vorbei: Während Coco Sumner – jene Coco also, der wir, wenn man ihrem Projektnamen glauben darf, im Zweifelsfall die Schuld geben dürfen – gerade einen Wohltätigkeitsauftritt in der Union Chapel mit den Arctic Monkeys und Richard Hawley vorbereitete und ganz in ihre Musik versunken war, tauchte plötzlich die leicht affenähnliche Silhouette von Ian Brown in einer Ecke des Raums auf und nickte anerkennend. „Und dann sagte er, dass meine Texte einfach ‘mega’ seien“, berichtet sie in einem für sie eher untypischen Anflug von Selbstbeweihräucherung. Mega!
„Mega’“, sagt auch sie gleich noch einmal. „So hat er das ausgedrückt. Für mich war es eines der größten und süßesten Komplimente überhaupt.“ Gleich danach fragte der legendäre „Godfather aus ‘Madchester’“, immerhin eine der eigentümlichsten und brillantesten Popgrößen der britischen Musiklandschaft, ob Coco ihn nicht mit ihrer Band bei seiner kommenden Tournee im Vorprogramm unterstützen wolle. Da nickte auch Coco.
Wenngleich sie noch nicht einmal gezeugt war, als The Stone Roses mit ihrem Album eine musikalische Ära definieren sollten, fühlt sich Coco Sumner von Natur aus zu verschrobenen Gestalten, Außenseitern, (Quer-)Denkern und ganz allgemein zu Leuten hingezogen, die das Pop-Ding nach ihren eigenen Regeln durchziehen. Kompromisse kommen für sie gar nicht erst in Frage. Noch am selben Abend unterhielt sie sich im Backstage-Bereich der besagten Charity-Veranstaltung mit Alex Turner von den Arctic Monkeys und stellte erleichtert fest, dass es auch in ihrer Altersklasse noch andere Musiker gibt, die „einfach nur echt und einfach nur sweet“ sind. Diese Beschreibung passt ehrlich gesagt auch auf die 19-Jährige, die nunmehr dazu ansetzt, die internationale Popwelt mit ihren anspruchsvollen (Mega-)Songs auf den Kopf zu stellen.
Coco ist nämlich drauf und dran, eines der eindrucksvollsten Debütalben des Jahres zu veröffentlichen: „The Constant“. Nachdem sie schon im zarten Alter von 15 Jahren im Alleingang an dieser Platte gefeilt und sich an den besagten (Mega-)Texten und den dazugehörigen Klangwelten abgekämpft hatte, warf sie letzten Herbst alles über den Haufen und ging die Sache noch einmal ganz von vorne an – komplett nach ihren eigenen Vorgaben natürlich. Und als sie dann ihre Zelte zwischenzeitlich in Schweden aufgeschlagen hatte, um dort mit einem der beiden Hauptproduzenten von „The Constant“ im Studio zu arbeiten, strich sie auch noch den Ska- und Reggae-Einschlag der ursprünglichen Rohversionen aus dem Programm und entdeckte etwas ganz Neues für sich, das viel gigantischer und druckvoller und überwältigender war: Sie hatte nämlich plötzlich die Idee, an die bahnbrechenden Soundlandschaften der achtziger Jahre anzuknüpfen, an die frühen Aufnahmen von Duran Duran oder die Platten der Psychedelic Furs. Anders gesagt: Sie wollte sich an dieser einzigartigen Mischung aus extrem persönlichen Texten und epischen Klangwelten ausprobieren, die schon eine ihrer zeitgenössischen Lieblingsbands – The Killers nämlich – ausgebuddelt und auf Vordermann gebracht hatten. (Cocos Kommentar: „Brandon ist ganz schön hölzern und steif. Genau das finde ich sexy an ihm.“)
Für eine Sängerin, die erst 1991 das Licht der Welt erblickt hat, hatte der Achtziger-Sound automatisch etwas Befremdliches; das alles klang revolutionär, unterkühlt, wahnsinnig spannend, nach Freiräumen und Grenzüber-schreitungen. Außerdem fand sie den Gedanken aufregend, dass man mit derartigen Sounds die sonst so sterile Radiolandschaft gehörig aufmischen könnte. Ihr Produzent Klas, bekannt für seine Arbeit mit Robyn – noch so ein ungewöhnlichen Popstar mit Ecken und Kanten also –, sah das genauso. Nach nur zwei Monaten im Studio hatten die beiden ein brandneues Mission Statement für I Blame Coco aufgesetzt: Sie wollten einen Sound kreieren, in der das komplexe Innenleben einer 19-Jährigen durchschimmert, die sich einfach mal durch eine vollkommen andere klangliche Stratosphäre treiben lässt. Wie also sollte das klingen? Verwegen, mutig und smart, absolut persönlich und unfassbar direkt.
Coco berichtet, dass sie sich stets an neue und ungewöhnliche Orte in ihrem Kopf begibt, wenn sie ihre Texte verfasst; ein Prozess, der für sie auf eine ganz besondere Art und Weise ablaufen muss: „Die Worte kommen in der Regel von ganz speziellen Orten in meinem Kopf. Ich versuche gar nicht erst zu verstehen, was ich da genau aufschreibe, wenn ich mich an diese Orte begebe; das kommt erst später. Ist immer gut, wenn man das Unterbewusstsein zunächst einfach mal machen lässt.“
Das Fundament des Songs „Caesar“ zum Beispiel, der ersten Singleauskopplung von „The Constant“, wurde ganz beiläufig gelegt, als Coco und ihr Produzent eigentlich nur ein bisschen Zeit im Studio totschlagen wollten. Es war das letzte Stück, das sie für ihre Platte aufnehmen sollte, und an diesem Punkt hatte sie schon so großes Vertrauen in ihr Können als Songschreiberin (Zitat: „Ich wusste sofort, dass mir da ein großer Wurf gelungen war.“), dass das Unterbewusstsein einen Großteil der Arbeit erledigen durfte. Anders hätte es in diesem Fall auch gar nicht funktioniert: „Wir waren unfassbar betrunken, als wir ‘Caesar’ geschrieben haben“, erinnert sie sich und muss selbst über diese Anekdote lachen. „Klas und ich legten einfach los, wir ließen alles raus wie bei einem Bewusstseinsstrom. Mir wurde erst im Nachhinein klar, dass es in dem Text ja um politische Systeme geht, um Korruption und Machtmissbrauch, und dass ich damit mal eben die ganze Phrasendrescherei der Politiker durch den Kakao gezogen hab. Deshalb auch die Anspielung auf den Roman ‘Herr der Fliegen’, der schon seit Ewigkeiten zu meinen Lieblingsbüchern zählt.“ Und so war in der promillehaltigen Umnebelung des Moments binnen kürzester Zeit ein subversiver Hitkandidat entstanden: „Wir dachten uns schon, dass das eine ganz dicke Nummer ist; also spielten wir sie den Verantwortlichen vom Label vor und die fanden den Track auch sofort großartig.“
Dabei waren die Labelvertreter nicht die einzigen: Auch Robyn bekam eine erste Demoversion von „Caesar“ zu hören und klopfte daraufhin persönlich bei Coco an, weil sie unbedingt einen zusätzlichen Gesangspart für den Refrain beisteuern wollte. „In ihrer Stimme schwingt so etwas Süßliches mit“, meint Coco, die natürlich genau weiß, dass ihr Gesang hingegen etwas Schüchternes und Zaghaftes hat (sie ist halt noch immer ein Teenie). „Es passte einfach perfekt. Sie ist definitiv ein Popstar, an dem man sich orientieren und zu dem man aufschauen kann.“ Aus ihrem Mund klingt das so, als gäbe es davon nur ganz wenige. „Sie hat in jeder Hinsicht das Sagen: Es ist wirklich ihr Sound, ihre Show, und selbst was das Artwork betrifft, hat sie die Fäden in der Hand. Alles läuft bei ihr zusammen. Dazu kommt“, so Coco, „dass sie auch ein bisschen durchgeknallt ist.“
Es gibt da noch eine Sache, die nicht länger unterschlagen werden soll: Irgendwo in Coco Sumner schlummert ein Gen, das für ihr Hitgespür verantwortlich ist. Ihre Mutter hört auf den Namen Trudie Styler, ihr Vater nennt sich Sting. „Ich liebe die beiden über alles“, sagt sie, „aber das hier hat nichts mit ihnen zu tun. Meine Musik ist mein eigenes Ding: Ich mache, was ich machen will, und sage in meinen Songs, was ich zu sagen habe.“ Nachdem Coco schon als Vierjährige ihre erste Gitarre in den Händen gehalten hatte, kannte sie noch vor ihrem zehnten Geburtstag jede Akkordfolge ihres Lieblingsalbums („Never Mind The Bollocks“ von den Sex Pistols) auswendig. Damals sei sie ein kleiner Nerd, eine Außenseiterin gewesen und etwas unbeholfen noch dazu. „Ich hab nirgendwo so richtig reingepasst.“ Das wiederum zeichnet die meisten großen Musiker aus.
Dazu muss man sagen, dass sie mit dem üblichen Rockstargören-Gehabe rein gar nichts anfangen kann: In Cocos Sound und Auftreten schimmert vielmehr durch, dass sie ihr ganzes Wesen täglich hinterfragt, sie immer wieder mit Identitätskrisen zu kämpfen hat, und genau das verleiht „The Constant“ diesen unwiderstehlichen Hauch von Verwundbarkeit und Intimität. Auch ist sie zweifelsohne ein verdammt hübsches Mädchen, sagt aber, dass sie ihr eigenes Gesicht nicht ausstehen kann. Und dann gesteht sie noch, dass sie Angst hat vor dem ganzen Rummel und ganz besonders vor Kameras, und dass sie geschlagene 17 Stunden lang mit den beiden Regisseuren von Hope Audikana (Newham Generals, Dizzee Rascal) proben musste, um in die richtige geistige Verfassung zu kommen, als es darum ging, das Video zu ihrer „Caesar“-Single zu drehen. Ihre Gesangskollegin Robyn war übrigens auch mit von der Partie und steuerte eine astreine Performance bei. „Mental begebe ich mich an einen ganz anderen Ort, wenn so eine Performance ansteht. Ich verliere mich komplett darin.“
An diese jenseitigen „anderen Orte“ transportiert Coco den Zuhörer wiederholt auf „The Constant“, doch nirgendwo geht sie weiter als auf ihrer Ballade „It’s About To Get Worse“: Während sie mit dem Titel auf die prekäre Lage in der Welt anspielt, präsentiert sie hier einen düsteren Sound, in dem sie der globalen Krise ihr persönliches Liebesleid gegenüberstellt und beides in einem unglaublich smarten Text ineinander verschränkt. „Auch hier will ich gar nicht so genau wissen, was das alles bedeutet, und ich will auch nicht zu viel verraten oder allen Leuten meine Interpretation des Songs aufdrücken. Wie darin jedoch die Beziehungskiste thematisiert wird, kann man aber auf jeden Fall ganz unterschiedlich auslegen.“
Auf „Self Machine“, ihrer ersten Single, spinnt sie die Idee einer weltweit vernetzten Online-Community bis zum bitteren Ende weiter und entwirft ein Bild von einem „Roboterstaat“, das sie musikalisch mit dem passenden Electro/Rock-Sound untermalt. Fast schon, als ob man es hier mit einer (New-)New-Wave-Sängerin zu tun hätte, die sich gleichermaßen von J.G. Ballard und dem Pixar-Streifen „Wall-E“ hat inspirieren lassen. Ein anderes unterkühltes Highlight ihres Debütalbums, der Track „In Spirit Golden“, entstand unter dem Einfluss der heftigen Medikamente, die Coco nehmen musste, nachdem sie in Los Angeles bei einem Abendessen zusammengebrochen war. Der unschöne Zwischenfall hatte körperliche (kein Geruchssinn, kaum noch Geschmackssinn), soziale (Zitat: „Ich musste vor kurzem einen ganzen Tag lang mit Elektroden am Kopf herumlaufen, weil die Ärzte die Wirkung des Medikaments überprüfen wollten. Das war mal so richtig peinlich.“) und nicht zuletzt auch kreative Auswirkungen: „Ehrlich gesagt war das Medikament der Hammer, weil ich darauf richtig gut schreiben konnte.“ Wie war das noch? Jedes Unglück hat auch sein Gutes. Allerdings. Übrigens sieht sie durchaus ein, dass man auch einen Titel wie „Party Bag“ (ein wahnsinnig eingängiger Track) in Richtung „Spaß mit Medikamenten“ auslegen könnte. „Allerdings geht es in dem Song eigentlich eher um diese Wundertüten, du weißt schon, diese Tüten, die man als Kind bekommt.“
Was den Titel ihres Debütalbums betrifft, stand der schon von Anfang an fest. Und genau wie bei ihrem Sound und ihrem ganzen Wesen – eine widersprüchliche Mischung aus Unsicherheit und todsicherem Gespür – kann man auch den Titel „The Constant“ ganz unterschiedlich auslegen. „Das Wort Constant steht einerseits natürlich für eine Konstante, für einen festen Wert. Für etwas, das nie aufhört zu existieren. Zugleich steht der Begriff aber auch für eine Uhr, die man irgendwo reintut und die dann nach einer gewissen Anzahl von Takten explodiert.“ Zeitlos und explosiv zugleich? Willkommen in der Welt von I Blame Coco!
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