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Biografie: Working Class Hero

John Lennon 2020 (1)
22.09.2005
JOHN LENNON
“Working Class Hero – The Definitive Lennon”

Tag für Tag pilgern hunderte Menschen von überall auf der Welt zu einem unscheinbaren, “Strawberry Fields” genannten Flecken im Central Park und verharren dort in stiller Einkehr. Manche legen vor einem Bodenmosaik mit der Inschrift “Imagine” Blumen nieder, andere stehen reglos und in Gedanken versunken da. Allen gemeinsam ist, dass sie John Lennon, der wenige Schritte von der Gedenkstätte entfernt ermordet wurde, die Ehre erweisen.

Mit der kleinen Geste mitten in New York erinnern die Fans an einen der größten Musiker des 20. Jahrhunderts. Und dies ist nur ein Indiz von vielen für die Sympathie, die dem Ex-Beatle selbst ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod noch entgegengebracht wird. Weitere Belege für die anhaltende Wertschätzung, die er weit über die Grenzen der Musikwelt hinaus genießt, sind die Umbenennung des Flughafens von Liverpool in “John Lennon Airport” oder auch die Taufe eines kleinen Planeten, der in einer Entfernung von 350 Millionen Kilometern um die Sonne kreist, auf seinen Namen. Und auch die Wahl unter die “Top 10 Greatest Britons” – die Zuschauer der BBC platzierten Lennon neben Churchill, Darwin und Shakespare – spricht eine deutliche Sprache.

In diesem Jahr lenken zwei besondere Daten unsere Aufmerksamkeit auf den verstorbenen Künstler: Am 9. Oktober hätte John Winston Lennon seinen 65. Geburtstag gefeiert, am 8. Dezember jährt sich zum 25. Mal sein Todestag. Gründe genug, noch einmal auf sein musikalisches Werk zu verweisen, das bis heute in den Herzen seiner unzähligen Verehrer weiterlebt. “Working Class Hero – The Definitive Lennon” versammelt die Höhepunkte aus dem Soloschaffen, in 38 Titeln werden alle Phasen vom Beginn seiner Solokarriere 1969 bis zu den letzten Aufnahmen kurz vor seinem tragischen Tod 1980 umfassend abgedeckt. Die Doppel-CD mit einer Spieldauer von über 150 Minuten enthält sämtliche Hitsingles und Schlüsselsongs der Soloalben. “Working Class Hero – The Definitive Lennon” ist somit eine hervorragende repräsentative Einführung für jüngere Hörer, aber selbst Lennon-Kenner können noch etwas dazulernen, gibt es hier doch so manchen weniger bekannten Remix jüngeren Datums zu entdecken.

Natürlich dürfen in dem Zusammenhang Klassiker wie “Cold Turkey” (über Johns Drogenentzug), “Gimme Some Truth” (eine Verszeile daraus trug Präsident Richard Nixon im Verlauf der Watergate-Affäre den Spitznamen “trick-dicky” ein) sowie “Whatever Gets You Thru The Night” (mit Elton John als Backgroundsänger und Co-Autor; 1974 auf Platz eins der US-Charts) nicht fehlen. Und die sehr persönlichen Titel “Woman” (eine Liebeserklärung an Yoko Ono), “Beautiful Boy (Darling Boy)” (Lennons Sohn Sean gewidmet) sowie das im Rahmen einer Urschreitherapie entstandene “Mother” (über Johns Mutter, die bei einem Autounfall ums Leben kam) sind selbstverständlich ebenfalls zu hören.

Unverzichtbar in einer Lennon-Retrospektive sind jene Lieder, die sein soziales und politisches Engagement zum Ausdruck bringen, die seine Vision von einer besseren Zukunft vermitteln. Hier wäre an prominenter Stelle “Give Peace A Chance”, das weltweit bekannteste Friedenslied, zu nennen. John Lennon und Yoko Ono nahmen den Protestsong in ihren Flitterwochen 1969 gemeinsam mit der Plastic Ono Band bei einem legendären “Bed-In For Peace” im Zimmer 1472 des Queen Elizabeth Hotel in Montreal auf. Mit Timothy Leary, Allen Ginsberg und Petula Clark im Chor warben sie – in Reaktion auf den Vietnamkrieg – aufrichtig für den Weltfrieden, was kurze Zeit später mit der ersten Number-One-Single für einen Ex-Beatle angemessen honoriert wurde.

Nirgendwo wird John Lennons Traum von einer besseren Welt deutlicher als in “Imagine”. In der Songutopie vom gleichnamigen Album des Jahres 1971 gibt es keine Staaten, keine organisierte Religion und keinen Besitz mehr, somit also “nothing to kill or die for”. Lennons Hymne für mehr Menschlichkeit gehört zu den meistgespielten Singles des vergangenen Jahrhunderts, die Hörer der BBC wählten “Imagine” gar zum beliebtesten Popsong aller Zeiten. Im “John Lennon Airport” in Liverpool hat man eine Textzeile daraus unter die Decke des Terminals verewigt: “above us only sky”.

Um die Werkschau “Working Class Hero – The Definitive Lennon” herum wird eine Vielzahl von Events stattfinden. So sendet die BBC eine große Dokumentation zum 65. Geburtstag, und das “John Lennon Museum” im japanischen Saitama zeigt in der Sonderausstellung “John Lennon & Liverpool” Erinnerungsgegenstände, die mit der Kindheit und Jugend in Lennons Heimatstadt verbunden sind. Am Broadhurst Theatre in New York läuft seit August das Musical “Lennon”. Getreu dem Slogan “His words. His music. His story” lässt die Bühnenbiographie an Hand von zwei Dutzend Songs und Tagebucheinträgen das künstlerische wie private Leben Revue passieren.

Gleich mehrere neue Bücher bemühen sich, den Mythos Lennon in Worte zu fassen: Bob Gruen unterzieht in “John Lennon: The New York Years” die Jahre als Solokünstler im Big Apple einer näheren Betrachtung, Lennons erste Frau Cynthia denkt in “John” an die gemeinsamen Ehejahre zurück, und Yoko Ono steuert in “Memories Of John Lennon” persönliche Erinnerungen aus der Zeit der zweiten Ehe bei.

Ono, die übrigens an der Zusammenstellung von “Working Class Hero – The Definitive Lennon” beteiligt war, reist im Oktober nach Tokio, um am “Dream Power Tribute Concert for John Lennon” teilzunehmen. Es wird im legendären Budokan über die Bühne gehen, jene Konzerthalle, in der einst auch die Beatles auftraten. Anschließend fliegt Yoko nach London und nimmt dort stellvertretend eine postume Auszeichnung für John entgegen. Später besucht sie in der Cité de la Musique in Paris die Eröffnung der Sonderausstellung “John Lennon: Unfinished Music”. Diese zeigt eine Auswahl von Lennons Collagen, die nie zuvor in Europa zu sehen waren, und dokumentiert seine Künstlerkarriere an Hand von Memorabilia wie etwa raren Lennon/Ono-Filmen.

Yoko Ono denkt laut eigenem Bekunden noch heute jeden Tag an ihren verstorbenen Mann “und trotzdem, es ist auch für mich etwas Besonderes, mir John mit 65 vorzustellen und mir auszumalen, was er wohl heute machen würde, wenn er noch unter uns wäre … Er wurde einst als ‘Mann der Dekade’ geehrt. Das war vor 35 Jahren. Inzwischen ist er ein Mann des Jahrhunderts und der Zukunft. Seine Arbeit inspiriert alle Menschen, und seine Stimme erreicht den ganzen Planeten … John schrieb großartige Songs mit wunderbarer Musik und kühnen Worten. Er hat sein Leben vor uns ausgebreitet, um stellvertretend für uns alle die Wahrheit zu sagen.”

Nicht zuletzt diese Begabung, die schonungslose Ehrlichkeit mit sich und anderen, machte Lennon zum unsterblichen Idol. Bono von U2, ein erklärter Bewunderer, sagte dazu einmal: “Seine wahre Stärke war seine raue Ehrlichkeit und Verletzlichkeit. Er war immerhin derjenige, der ‘Help’ sang, das sollte man nicht vergessen. Er hatte den Mut, seine Seele zu offenbaren, und den Mut, zu versagen. Dazu braucht man wirklich Courage.”

Das Eingeständnis der eigenen Fehlbarkeit, seine Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Lebensweisen und die nimmermüde Sehnsucht nach einem friedlichen Zusammenleben machten John Lennon zum Sprachrohr seiner Generation. Er war der Archetyp des “angry young man” und die erste authentische weiße Stimme im Rock ‘n’ Roll, war der erste Star, der mit den Widersprüchen seines Berufs offen umging. Lennon hat den Gegensatz zwischen “street credibility” und Berühmtheit, zwischen dem Kampf für die Unterprivilegierten und seinem eigenen Leben in Luxus nie verschwiegen. In unserer Erinnerung lebt er weiter als Provokateur und Friedensstifter, als Zyniker und Weltverbesserer, kurzum: als Paradoxon, das bis heute nicht aufgelöst wurde. Gerade deshalb ist die Beschäftigung mit ihm immer noch spannend und lohnend. John Lennon – ein Mann mit vielen Gesichtern.

September 2005

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