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John Scofield Trio – EnRoute

23.04.2004
Eine frostige Dezembernacht in einem der kältesten Winter der letzten Jahre. Beim Betreten des New Yorker Jazzclubs Blue Note durchquert man zunächst das dunkle Foyer, geht durch die Bar weiter und nimmt dann schließlich an einem der Tische direkt vor der schmalen Bühne Platz. Die Lichter werden gedämpft. “Ladies and gentlemen”, verkündet ein Ansager, “please welcome the John Scofield Trio!”
Im Nu ist das lausige Wetter, das draußen herrscht, in Vergessenheit geraten, verjagt von der Hitze, die die drei großartigen Musiker erzeugen, als sie loslegen. Gitarrist John Scofield und seine Trio-Kollegen – Bassist Steve Swallow und Schlagzeuger Bill Stewart – sind alte Freunde und schon seit langem musikalische Partner. Die drei sprühen vor spontanen Einfällen und schlagen geradezu Funken, als sie sich durch ein kompaktes Programm aus Jazzstandards und gewitzten Eigenkompositionen rackern. Das Trio spielt nicht einfach eine Reihe von Songs, sondern Musik, die den Geist verkörpert, der den Jazz seit seiner Geburt frisch und munter gehalten hat.
 
Hunderte glückliche Musikfans, Einheimische ebenso wie auswärtige Besucher, erlebten in dieser Dezemberwoche des vergangenen Jahres das John Scofield Trio, als es im Blue Note gastierte. Wer dort war, wird sich immer an dieses Ereignis erinnern. Und glücklicherweise war auch ein Aufnahmeteam von Verve Records dabei, um diese Momente unter dem Titel “EnRoute” für die interessierte Nachwelt zu konservieren.
 
“EnRoute” ist Scofields siebtes Album für Universal Music. Die vorangegangenen Platten haben den Gitarristen immer im Rahmen von mehr oder weniger aufwendig produzierten Studioaufnahmen präsentiert. Zuletzt legte er zwei wirklich grundverschiedene Werke vor: Während Scofield auf “Up All Night” (Verve) mit seiner eigenen jungen Band in einer groovigen Jamsession zu hören war, bei der auch jede Menge elektronische Geräte zum Einsatz kamen, präsentierte “Scorched” (Deutsche Grammophon) eine ungewöhnliche Zusammenarbeit mit dem klassischen britischen Komponisten Mark-Anthony Turnage, bei der John Scofield als Leader eines (mit Bassist John Patitucci und Schlagzeuger Peter Erskine besetzten) Jazztrios auf das Radio-Sinfonie-Orchester Frankfurt und die Big-Band des Hessischen Rundfunks traf. Auf “EnRoute” sollten nun die elektrisierenden Interaktionen einer kleinen, kompakten Live-Band in den Mittelpunkt des Geschehens gerückt werden. Deshalb brachte Scofield zu den Auftritten im Blue Note auch nur seine E-Gitarre, einen Verstärker und ein Whammy-Pedal mit; den Rest seines mittlerweile umfangreichen elektronischen Equipments ließ er zu Hause.
 
“Ich wollte mit zweien meiner bevorzugten Partner eine richtig jazzige, improvisierte Aufnahme machen”, sagt Scofield. “Das ist, so simpel es klingt, eine echte Herausforderung. Wir wollten uns nicht auf Arrangements stützen, sondern auf das Zusammenspiel der Gruppe. Die Chemie im Trio mußte also hundertprozentig stimmen, weil wir gänzlich ohne Netz und doppelten Boden spielen wollten. Bei einer Studioaufnahme ist dies heute kaum einmal der Fall: Ich glaube, das Publikum macht den großen Unterschied. Es gibt eine symbiotische Affinität zwischen den Künstlern und den Zuhörern, die einen Live-Auftritt zu etwas Besonderem macht.”
 
Scofield wollte auf “EnRoute” den Ablauf eines typischen Live-Sets in einer heißen Sessionnacht dokumentieren. Für Jazzfans repräsentieren gerade Trio-Live-Aufnahmen diese Kunstform in höchster Vollendung. Scofield kann auf Anhieb seine eigenen Favoriten nennen: “Bill Evans' [Sunday] ‘At The Village Vanguard’ ist eine Scheibe, die ich sehr mag. Sonny Rollins' ‘A Night At The Village Vanguard’, Jim Halls ‘Jim Hall Live!’ und John Coltranes ‘Live At The Village Vanguard’: Bei ‘Impressions’ und ‘Take The Coltrane’ pausiert das Piano, so daß nur das Trio spielt – all diese Aufnahmen haben mein Leben verändert.”
 
Auf “EnRoute” beweist Scofield, daß auch er weiß, wie man vorgehen muß, um ein außergewöhnliches Live-Dokument zu erhalten. Natürlich werden sofort Erinnerungen an die Anfangsjahre von Scofields Solokarriere und die beiden Trio-Live-Alben “Shinola” und “Out Like A Light” (Enja) wach, die auch in einer Dezemberwoche mitgeschnitten wurden, allerdings schon 1981. “Ich kann mich erinnern, daß ich damals beim Spielen noch sehr viel verkrampfter war”, sagt Scofield mit einem Lachen. “Heute kann ich einfach den Augenblick genießen und meinen Spaß haben. Es war eine echte Freude, diese Platte zu machen.”
 
Seit diesen Anfangsjahren hat Scofield als Instrumentalist und Bandleader einen weiten Weg zurückgelegt. Aber eine Bindeglied gibt es zwischen “EnRoute” und den frühen Enja-Aufnahmen: den Bassisten Steve Swallow. “So einen wie ihn gibt es in der Musik nicht zweimal”, sagt Scofield mit aufrichtiger Bewunderung. “Er kann nicht nur wie ein Kontrabassist spielen – so wie es sich für einen erfahrenen Jazzveteranen wie ihn ja auch geziemt -, sondern er ist auch ein E-Bassist, der wie ein Gitarrist Akkorde und Soli spielen kann. Er gibt der Musik eine ganz andere Dimension; er gibt einem einen unglaublichen harmonischen Rückhalt.”
 
Schlagzeuger Bill Stewart, der dritte Mann auf “EnRoute”, hat mit Scofield auch schon vor vierzehn Jahren das erste Mal zusammengespielt. “Für mich ist er einfach einer der besten Schlagzeuger der gesamten Jazzgeschichte”, macht Scofield klar. “Bill versteht alles, was ich harmonisch spiele. Deshalb kann er auf das, was Steve und ich spielen, in einer unglaublich musikalischen Weise antworten. Und er hat natürlich auch ein großartiges Rhythmusgefühl: Seine innere Uhr ist sekundengenau und durch nichts aus dem Takt zu bringen.”
 
Stewarts unerschütterlichen Puls und seine einzigartige rhythmische Konzeption zeigen sich gleich in den ersten Takten von “Wee”, dem von Denzil Best geschriebenen Bebop-Standard, mit dem “EnRoute” beginnt. “Dieses Stück spielen wir schon seit einigen Jahren immer wieder, weil Bill ihm einen fantastischen Beat verpaßt hat”, erläutert Scofield. “Und das, was Steve hier macht, bringt sonst wirklich niemand zustande. Es ist eine swingende Jazznummer, die in gewisser Weise allerdings auch recht groovig ist. Ich wollte das Album mit diesem Stück beginnen, weil es zum einen gleich für gute Stimmung sorgt und andererseits von diesen beiden Typen so einzigartig gespielt wird.”
 
Zu “Toogs” wurde Scofield durch die beiden kleingewachsenen Dachshunde inspiriert, die sein Zuhause bewachen. “'Toogs' steht einfach für ‘two dogs’”, erhellt Scofield ein wenig verlegen. Die Melodie spiegelt zunächst eine Szene häuslichen Glücks wider. Bis Scofield und Stewart dann irgendwo in der Mitte des Songs einen hitzigen Dialog beginnen, der einen ein wenig an die legendären Duelle von John Coltrane und Elvin Jones erinnert. Swallow begleitet seine beiden Partner hier mit einem dezenten Bass-Vamp. “Es beginnt als kleine, harmlose Spielerei”, erklärt Scofield, “und artet schließlich in einen Hundekampf aus!”
 
Die dritte Nummer, “Name That Tune”, erinnert einen daran, was für ein exzellenter Komponist Bassist Steve Swallow ist. Das mysteriöse Stück, das Swallow 1997 für sein Soloalbum “Deconstructed” erstmals einspielte, mag einem irgendwie bekannt vorkommen. “Steve hat ein ganzes Album mit Stücken gemacht, die auf den Hamoniewechseln von bereits existierenden Jazzstandards basieren”, erzählt Scofield, “und dieses Stück basiert auf den Changes von ‘Perdido’. Wir spielen es in einem halsbrecherischen Tempo. Das ist Bebop für’s Jahr 2003, der aber trotzdem noch sehr in der Tradition verwurzelt ist.”
 
Seinem 16jährigen Sohn Evan verdankt Scofield den seltsam poetischen Titel des Stücks “Hammock Soliloquy” (“Hängemattenmonolog”), bei dem Stewart zwischen einem langsamen Strut und einem luftigeren Uptempo-Beat hin- und herwechselt. “Ich habe meinem Sohn irgendwann einmal eine Probeaufnahme dieses damals noch namenlosen Stücks vorgespielt, und er meinte wie aus der Pistole geschossen: ‘Hammock Soliloquy’”, erinnert sich Scofield. Der merkwürdige Titel ist eine verballhornende Anspielung auf Shakespeares Hamlet-Monolg – in Englisch: Hamlet’s Soliloquy.
 
Als nächstes folgt mit “Bag” ein ausgelassener Blues. “Swallow gab Bill vor langer Zeit den Spitznamen ‘Bag’”, klärt Scofield auf. “Ich weiß selbst nicht so genau, warum. Vielleicht weil Bills Koffer immer so aussehen, als hätte er sie im Sperrmüll gefunden, während Swallows Koffer stets so wirken, als hätte er sie gerade erst neu gekauft.” Da Stewart Scofield an dieses Stück erinnerte, das noch aus der Zeit stammt, als die beiden das erste Mal miteinander spielten, fand es der Gitarrist nur angemessen, es nach dem Schlagzeuger zu benennen.
 
In “It Is Written” können sich Scofield und seine beiden Partner so richtig gehenlassen und unter einander austauschen. Mit seinem munteren Rhythmus und den raffinierten Akkordfolgen mausert sich der Song zu einem der Höhepunkte des Programms.
 
Das von Burt Bacharach und Hal David geschriebene “Alfie” ist ein zeitloser Standard. “Es ist eines meiner absoluten Lieblingsstücke, und ganz besonders liebe ich es in einer Aufnahme von Dionne Warwick”, meint Scofield. “Es ist wirklich gar nicht so einfach, über dieses Stück zu improvisieren. Es bedarf schon einer besonderen Behandlung; deshalb haben es bisher wahrscheinlich auch nicht übermäßig viele Jazzkünstler nachgespielt.” Swallow ist in dieser Ballade mit einem atemberaubenden Solo zu hören, das er in den oberen Tonlagen seines Instruments spielt und das ihn eher wie einen virtuosen Gitarristen, als wie einen Bassisten klingen läßt.
 
Der geschäftig-emsige “Travel John” hat einen so immensen Vorwärtsdrang, daß er den Musikern keine Zeit läßt, eine Pause einzulegen und Atem zu schöpfen.
 
Beendet wird das Programm mit einem Stück, bei dem Scofield denselben Trick anwendete, den Swallow so geschickt bei “Name That Tune” benutzt hatte. “Over Big Top” basiert auf der Baßlinie und dem Rhythmus eines anderen Scofield-Stücks: “Big Top” vom 1995er Blue Note-Album “Groove Elation”. Die schrammelnde Melodie und der funkige Strut-Rhythmus des Stücks inspirierten Scofield zu einem seiner freiesten und ungebändigsten Soli, auf das das Publikum mit wilder Begeisterung reagierte. Stewarts scheinbar unkontrollierte rhythmische Verschiebungen und Akzente tragen auch dazu bei, diese Nummer zu einem krönenden Konzertabschluß zu machen.
 
“Over Big Top” bringt auf den Punkt, worum es Scofield bei den Aufnahmen für “EnRoute” einzig und allein ging: Um die Präsentation von drei Musikern, die vor einem enthusiastischen Publikum um die Wette grooven und eine spezielle Synergie entfalten. “Man kann sein eigenes Werk natürlich nicht wirklich objektiv beurteilen”, sagt Scofield abschließend, “aber ich glaube, daß diese Aufnahmen zu meinen absolut besten zählen. Wir drei bilden eine wirkliche Einheit und konnten hier einige Dinge machen, die uns in einem Studio normalerweise nicht gelingen würden.”

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