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Up All Night

15.05.2003
In den rund 30 Jahren seiner Karriere hat der Gitarrist John Scofield nie so lange bei einem Stil verharrt, daß man ihn darauf hätte festnageln können. Gerade wenn man glaubte, daß er nun zur Ruhe gekommen wäre und sich stilistisch endlich festgelegt hätte, wandte sich der Gitarrist wieder völlig neuen Herausforderungen, Klängen, Stilmitteln und Mitmusikern zu. So auch auf seinem neuen Album “Up All Night”.
“Das Spielen macht mir heute mehr Spaß denn je”, meint Scofield und überrascht einen dann mit der Behauptung: “Ich habe den Eindruck, daß ich jetzt endlich lernen kann, wie man wirklich Gitarre spielt. Nachdem ich etliche Chancen hatte, mit meinen musikalischen Idolen zusammenzuspielen, inspirieren mich heute jüngere Musiker. Ich war tatsächlich noch nie so versessen darauf, neue Musik zu schreiben und zu spielen, wie dies heute der Fall ist.”
 
“Ich mußte lange suchen, um die richtigen Musiker für dieses Album zu finden”, sagte Scofield letztes Jahr anläßlich der Veröffentlichung von “überjam”, seinem ersten Album mit dem jungen Quartett. “Aber ich kann sagen, daß diese Jungs die besten sind, mit denen ich in diesem Genre je gespielt habe. Es ist ein absolutes Vergnügen mit ihnen tagein, tagaus zusammenzuarbeiten.” Bevor er im Spätsommer 2001 mit Rhythmusgitarrist Avi Bortnick, Bassist Jesse Murphy und Schlagzeuger Adam Deitch (sowie den Gästen John Medeski und Karl Denson) ins Aufnahmestudio ging, um “überjam” einzuspielen, hatte er mit der Besetzung schon drei Jahre live zusammengearbeitet. Das Album entpuppte sich als eine der aufregendsten, abwechslungsreichsten und witzigsten Jazzproduktionen des Jahres 2002 und wurde auch für einen Grammy nominiert.
 
Jetzt legt die John Scofield Band nach einem Konzertmarathon, der das Ensemble noch enger zusammengeschweißt hat, den “überjam”-Nachfolger “Up All Night” vor. In der Besetzung mußte Scofield nur eine kleine Änderung vornehmen, da Bassist Jesse Murphy im Juni vergangenen Jahres aus der Band ausstieg, um anderen professionellen Verpflichtungen nachzukommen. Für ihn stieg Andy Hess ein, der zuvor mit Leo Nocentelli und Zigaboo Modeliste (ihres Zeichens Gitarrist respektive Schlagzeuger der legendären New Orleanser Funk-Band The Meters), P-Funk-Organist Bernie Worrell, Singer/Songwriter Freedy Johnston, David Byrne, Tina Turner, Joan Osborne, Shawn Colvin und den Black Crowes gearbeitet hatte. Bei sechs Stücken stößt zu diesem Quartett außerdem noch ein vierköpfiges Bläserensemble (bestehend aus den Saxophonisten Craig Handy und Gary Smulyan, Trompeter Earl Gardner und Posaunist Jim Pugh), das ansonsten in Diensten Carla Bleys steht.
 
“Up All Night” bietet zehn neue Kompositionen, die Scofield entweder alleine oder mit seinen jungen Kollegen schrieb, sowie eine Coverversion des Philly-Soul-Klassikers “Whatcha See Is Whatcha Get” (Das deutsche Label ZYX Records hat das gleichnamige 1972er Album der Dramatics letztes Jahr in exzellenter Tonqualität auf CD wiederveröffentlicht!).
 
“Die Band hat sich in den letzten anderthalb Jahren wirklich rasant weiterentwickelt und spielt heute einfach noch viel besser zusammen”, sagt Scofield. “Das gibt uns die Möglichkeit, mehr von Avis großartigen Samples zu verwenden. Und ich kann auch sehr viel mehr neue Gitarren-Sounds benutzen als je zuvor.” Wer nun denkt, daß die Musik von “Up All Night” am Reißbrett entworfen wurde und nur mit Hilfe aufwendiger Studiotechnik in die Tat umgesetzt werden konnte, liegt völlig falsch. “Weder die Samples noch die Soli wurde in Overdub-Verfahren aufgenommen”, stellt Scofield klar. “Was auf dem Album zu hören ist, wurde von uns so auch live eingespielt! Das unterscheidet dieses Album sehr deutlich von etlichen Electronica- und Ambient-Alben, bei denen die Aufnahmen Spur für Spur gemacht werden und schier endlos an einem einzigen Track herumgefrickelt wird. Wir spielen dieses Zeugs live!” Kein Wunder also, daß die Musik von “Up All Night” trotz des verstärkten Einsatzes der Sample-Technologie absolut lebendig und teilweise geradezu wild klingt!
 
Mit seinem Enthusiasmus für das Samplen hat Rhythmusgitarrist Avi Bortnick mittlerweile sogar Scofield selbst angesteckt. “Meine Gitarren-Samples kann ich jederzeit einsetzen, während wir spielen”, sagt Scofield voller Begeisterung. “Ich spiele einfach etwas in dieses Ding und bekomme es rückwärts oder mit verdoppelter Geschwindigkeit wieder zurück. Manchmal bring ich so die verrücktesten Sachen zustande, die überhaupt nicht mehr nach einer Gitarre klingen.”
 
Mit erdigen Grooves sorgen Andy Hess und Adam Deitch dafür, daß Scofields und Bortnicks experimentelle Spielereien nicht in allzu luftige Höhen entschwinden. “Andy ist einfach der perfekte Bassist für mich”, meint Scofield. “Er ist ein Funk-Bassist der alten Schule und hat schon mit einigen sehr bekannten Rhythm’n'Blues- und Funk-Musikern zusammengearbeitet.” Nicht weniger wichtig ist für die Band Schlagzeuger Adam Deitch, der auf “Up All Night” wirklich die gesamte Palette der klassischen und modernen Dancefloor-Grooves vorführt und mit seinem Faible für spontane Gesangs- und Rap-Einlagen auch seinen Teil zur gesunden Verrücktheit dieses Albums beiträgt.
 
In stilistischer Hinsicht ist “Up All Night” wirklich eine wahre Wundertüte und übertrifft das hochgelobte Vorgängeralbum “überjam” noch um Längen. Bei jedem Stück bedient sich die John Scofield Band anderer Elemente: das Spektrum umfaßt u.a. Soul, Rhythm’n'Blues, Funk, HipHop, Techno, Disco, Afrobeat, Drum’n'Bass und Jungle. Daß die Aufnahmen dennoch wie aus einem Guß wirken, ist darauf zurückzuführen, daß dieses Quartett eine Jam-Band im besten Sinne und die jazzige Improvisation ein unverzichtbarer Bestandteil ihres musikalischen Konzeptes ist. Unüberhörbar ist auch der Spaß, den die Band bei der Einspielung von “Up All Night” hatte. Um keines der vielen aberwitzigen Details zu verpassen, sollte man das Album auch möglichst oft und durchaus auch laut hören.

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