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Herzmusik

07.05.2004
Das Wort “Pathos” stammt laut Duden aus dem Griechischen (gr. für “Leiden”) und steht im direkten Sinne für leidenschaftlich-bewegten Ausdruck, feierliche Ergriffenheit, aber auch für Gefühlsüberschwang und übertriebene Gefühlsäußerung. Zu der Zeit, als Beethoven seine “Pathétique” schrieb allerdings verstand man darunter durchaus einen ethischen Imperativ, der vor allem den Widerstand des Menschlichen gegen das Tragische des Leidens an sich ausdrückte. So war die “Grande Sonate Pathétique” auch ein wenig Programmmusik, ein Sinnbild der im Inneren aufeinander prallende Gegensätze menschlichen Empfindens.
Die 32 Sonaten gelten im Allgemeinen als Höhepunkt von Beethovens Klavierwerk. Die Formprinzipien des Sonatenhauptsatzes im Kleinen und des Sonatenzyklus' im Großen finden darin eine nahezu ideale Umsetzung. Zur Erläuterung: Im Sonatenhauptsatz wird der Gegensatz von Haupt- und Nebenthema zum antithetischen Prinzip erhoben. Das zwischen diesen beiden Polen entwickelte Spannungsfeld ergibt dann die mögliche Basis für den Durchführungsteil. In der Regel steht das erste Thema für das rhythmische, männliche Element, das zweite für das kantable und weibliche. Beide Themen wiederum sind durch verwandte motivische Wurzeln miteinander verknüpft und ergeben auf diese Weise die harmonische Gesamtheit des Satzes. Beethoven selbst legte großen Wert auf die Perfektion der formalen Umsetzung, die bereits von seinen Zeitgenossen als vorbildlich verstanden wurde. Seit Franz Liszt hat sich die Einteilung der Werke in drei Phasen eingebürgert, die der Bewunderer kurz unter “l’adolescent, l’homme, le dieu” zusammenfasste. Die “junge” Periode reichte seiner Meinung nach von op.2–22, die “erwachsene” von op.26–90 und die “göttliche” von op. 101–111.
 
Alle vier Sonaten, die sich Maurizio Pollini für den zweiten Teil seines Beethoven-Zyklus' vorgenommen hat, stammen daher aus der frühen Phase. Die Werke op. 10 entstanden zwischen 1796 und 1798, die berühmt gewordene “Pathétique” op. 13 aus dem Jahr 1799. Gemeinsam sind ihnen der gestalterische Eigensinn, mit dem sich der Komponist bereits in den “frühreifen” Werken an die Arbeit macht – sei es das überraschende Presto im ersten Satz von op. 10/3, seien es die vehement miteinander kämpfenden Motive der op. 13 oder überhaupt die auffällig genialischen, rhythmischen und formalen Einfälle, die die Sonaten durchziehen. Für Maurizio Pollini ist es daher ein besonderes Vergnügen, sich der weniger bekannten Werke op. 10 anzunehmen, ihre Eigenheiten herauszuarbeiten und sie den mit dem vermeintlich romantischen Stück par excellence zu kontrastieren.
 
Nüchtern, fast schon mit Understatement gestaltet er das Paradestück des bürgerlichen Wohnzimmers, nimmt ihm die Schwüle, ohne es zu entzaubern. So entsteht eine Art Werkstattblick auf ein Stück Kulturerbe, das im Laufe der Jahre zahlreiche Misshandlungen durch Klavierschüler und höhere Töchter über sich ergeben lassen musste. Und so wird das Urteil transparent, das Joachim Kaiser in seinem Buch “Große Pianisten in unserer Zeit” über ihn fällte: “Bei Pollini steht Technisches völlig unter Kontrolle, im Dienste einer ungemein sensiblen, elegischen Klangvorstellung”. Das gilt eben nicht nur für den späten Beethoven, sondern auch für die Sonaten des noch jungen Meisters der klassischen Formgestaltung.

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