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Nachtgedanken

07.10.2005
Es ist schon ein paar Jahre her, dass sich Maurizio Pollini dem Werk von Frédéric Chopin auf Platte genähert hat. Damals entstanden Aufnahmen der Etüden, Préludes, der zweiten Sonate und oder auch der Balladen, sie wurden jedoch von der Beschäftigung mit Werken von Schubert, Schumann, Brahms und auch Mozart überlagert. Im Sommer 2005 nun kehrte Pollini zu dem großen Romantiker zurück und widmete sich im Münchner Herkulessaal den fragilsten Kompositionen, die Chopin geschaffen hat: den Nocturnes.
Es scheint so leicht und ist doch so schwer. Zahllose Musikschüler und Amateure in aller Welt haben sich über die Jahre hinweg an den Klavierwerken von Chopin versucht, weil sie an der Oberfläche Temperament, Gefühl und Pathos verheißen. Die Profis jedoch halten sich zurück, warten häufig bis in spätere Phasen ihrer Karriere oder nähern sich in verschiedenen Anläufen den ungewöhnlichen Kompositionen. Maurizio Pollini etwa, 1960 bereits der Gewinner des damaligen Chopin Klavierwettbewerbs in Warschau, kehrt in regelmäßigen Abständen zu einzelnen Werkkomplexen zurück, wohl wissend, dass er sich mit den Grundlagen der Ausdruckskraft an seinem Instrument überhaupt befasst: “Man kann sicherlich sagen, dass Chopin das moderne Klavierspiel erfunden hat. Man könnte sogar behaupten, dass er die schönsten Klänge überhaupt in der Geschichte des Klaviers geschaffen hat. Debussy und Ravel haben viel von ihm übernommen. Aber es war nicht nur sein Spielstil und die damit zusammenhängende Sonorität, der spätere Generationen beeinflusste, sondern auch seine Art zu komponieren. Als Musiker wurde Chopin gelegentlich als ‘ohne Vater und Sohn’ gesehen. Er steht für einen außergewöhnlichen und einzigartigen Moment in der Musik. Tatsächlich ist es schwer, einen ‘Vater’ für ihn zu finden, selbst wenn man sich auf Komponisten wie Bach oder Mozart bezieht”. Alles ist anders im Fall von Chopin, dem Lebemann und Melancholiker, dem Exilanten und Heimatlosen, der all seine Phantasie in die Sphäre des Klaviers zu legen verstand.

Wie die Mazurken und die Walzer auch beschäftigten die Nocturnes den Komponisten sein Leben lang. Von den jungen Werken op.9 bis zu den späten op. 62 umkreiste er in zahlreichen Anläufen die Idee der lyrischen Melodien zur Nacht und schuf sie in weit changierenden Farben von optimistisch hell bis somnambul verhangen. Diese Vielfalt regte Maurizio Pollini dazu an, sich den Nocturnes in chronologischer Reihenfolge zuzuwenden und sie zu einem kompakten Zyklus der verschiedenen Klangeindrücke zu verknüpfen: “Die Nocturnes sind wundervolle Werke. Sie sind natürlich in erster Linie lyrisch angelegt, allerdings haben sie auch weitreichende Unterschiede. Das wiederum macht es so interessant, sie in einer zyklisch angelegten Reihenfolge aufzunehmen, schon allein deshalb, weil sich auf diese Weise die Kontraste treffend darstellen lassen. Ich finde es spannend, diese Gegensätze nacheinander auf mich wirken zu lassen, vielleicht nicht alle auf einmal, aber doch einige davon”. Und deshalb machte er sich im Juni 2005 an eine zwei CD-Längen umfassende Einspielung der Nocturnes, die in vieler Hinsicht Maßstäbe setzen wird. Denn Pollini betrachtet Chopin aus der Perspektive von mehr als vier Jahrzehnten Interpretationserfahrung, die alle effektbetonten Momenten beiseite lassen kann. Seine Virtuosität liegt in der Mühelosigkeit, mit der er über die Tasten gleiten kann, in der subtilen Binnendifferenzierung des Anschlags, der Dynamik, des Flusses der Musik. Dadurch bekommen die Kompositionen eine faszinierende Weite und Universalität, die von Chopin in der Struktur bereits angelegt war, in der Regel aber von der Dominanz des nahe liegenden Gefühls verdrängt wird. Das ist eben der feine Unterschied einer Interpretation, die versucht, den Phänomenen einer musikalischen Meisterschaft auf den Grund zu gehen.

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