The Prodigy | Biografie

The Prodigy, “The Day Is My Enemy”, 2015

In der Nacht spricht die Großstadt ihre ganz eigene Sprache. Sie teilt sich uns durch urbane Geräusche wie gleichförmiges Brummen oder chaotische Krachkaskaden mit. Die unsichtbare Stadt mitten in der Stadt, die irgendwo im Schatten der dauerbetäubten, modern-überstylten City-Gebiete existiert.
Das nächtliche Herz, das im Rhythmus ganz verschiedener Schläge pulsiert: Ob im Takt einer zerstörten Military-Snare, eines verzerrten Breaks, eines gestörten Dub-Signals, eines fernöstlich klingenden Refrains oder einer ganzen Kakophonie sich überschneidenden Autoradiogewirrs – eine nokturne Symphonie willkürlichen Zufallslärms; der Soundtrack eines Lebens am Ende der Nacht.
Da, wo sich alles Menschliche in dunkle Ecken zurückgezogen hat; die Kapuzen tief im Gesicht und der Blick nach unten, während man nur in geheimen Gesten miteinander kommuniziert. Dort, wo die Stadtfüchse in der gespenstischen Dunkelheit der nächtlichen City auf die Jagd gehen, sich durch den Müll des zu Ende gegangenen Tages wühlen und sich nehmen, was sie brauchen. Furchtlos, unbehelligt, vogelfrei, unantastbar… So wie The Prodigy.
Auf ihrem neuen Album “The Day Is My Enemy” nehmen The Prodigy die Hörer mit auf einen Trip: Eine Reise durch die unerforschten Schattenseiten des urbanen Nightlifes, in dem ein Energiestrom aus reiner Wut und Aggression unter der scheinbar ruhigen Oberfläche brodelt. Ständig bereit, mit voller Wucht zu explodieren. “Ich kann gar nicht so genau sagen, warum diese Platte so wütend geworden ist”, so The Prodigy-Soundtüftler Liam Howlett. “Ich denke, Aggressionen sind einfach ein Teil von mir. Es geht mehr darum, was der Effekt meiner Musik sein soll.
Ich habe Musik immer schon als eine Art Angriff betrachtet. Dafür benutze ich meine Musik: Als Attacke.Der Plan war nicht, dass sich das Album brutal anhören müsste; es ist lediglich das Klangergebnis, wie es sich über vier Jahre aufgestaut hat. ‘Anger is an energy’ – diese Lyriczeilen habe ich extrem verinnerlicht. Diese ganz besondere Hochspannung ist schon vom ersten Ton in die Musik eingebettet. Es ist extrem wichtig, dass der Sound dem Hörer einen gewissen Eindruck von Gefahr vermittelt. Genau darum geht es bei The Prodigy.”
Wobei Liam Howlett, Keith Flint und Maxim im Grunde absolut keinen Grund hätten, über die Maßen wütend zu sein. Im Gegenteil: Schon seit nunmehr 25 Jahren bahnen sich The Prodigy ihren ganz eigenen Pfad durch die Electronic Dance Music. Mit fünf genre-prägenden Longplay-Meilensteinen wie dem 2009 releasten “Invaders Must Die” und seinen mitreißenden High Energy-Liveshows gehört das britische Trio zu den erfolgreichsten und spannendsten Electro-Formationen der Welt.
Eine Formation, die sich ständig weiter entwickelt und unzählige Künstler inspiriert und beeinflusst hat. Und niemand würde es auch nur wagen, mit der Wimper zu zucken, wenn die Band nach so langer Zeit auf Nummer sicher gehen und ein waschechtes Mainstream-Album mit in die US-Charts schielendem Massen-EDM veröffentlichen würde, auf dem man ihre fette Altersrente aus jedem verdammten Beat heraushören könnte. Genau das tun Künstler doch, wenn sie eine gewisse Phase ihrer Karriere erreicht haben. Oder?
Vielleicht. Doch jeder, der von The Prodigy auch nur die leisesten Ansätze in Richtung Mainstream-Anbiederung vermutet, der hat bisher offenbar gar nichts von der ideologischen Electro-Reaktionärshaltung der Briten verstanden. Mit “The Day Is My Enemy” überschreiten die Herren Howlett, Flint und Maxim die Grenzen jeder Erwartungshaltung mit diebischem Vergnügen um ganze Klangwelten. Wie eine verschlagene Teenagergang, die sich leidenschaftlich darüber streitet, welches Auto wohl den schnellsten Motor hat, um es schließlich aufzubrechen und mit bis zum Anschlag durchgetretenem Gaspedal in die Nacht zu entkommen.
“Es ist unser gutes The Prodigy-Recht, stolz auf unsere Roots zu sein”, so Liam. "Wir lassen es nicht zu, dass uns irgendjemand in einen Topf mit diesen nach der immer gleichen fuckin' Dancemusic-Masche arbeitenden Crews wirft. Genau diese Typen sind der Scheißgrund, weshalb heut niemand mehr diese Art von Musik ernst nimmt. Musik-Sketche bei “Saturday Night Live” als Verarschung – das war das absolute Ende dieses Genres. Das ist nicht das, worum es bei elektronischer Musik geht. Diese uninspirierten, denkfaulen DJs müssen endlich an den Pranger gestellt werden. Ich habe ganz bewusst kein einziges Element verwendet, die die Leute heute üblicherweise im Dancemusic-Sound erwarten.
Diese typischen Snare-Grundgerüste und ähnlichen Bullshit sucht man bei uns vergeblich." Wenig verwunderlich, dass der Track “Ibiza” (auf dem Sleaford Mods-Member Jason Williamson zu hören ist) alles andere als eine von diesen allnächtlichen Hands-In-The-Air-Partyhymnen ist, die man ansonsten von Montag bis Montag in den EDM-Clubs der weißen Insel um die Ohren gehauen bekommt, sondern sich vielmehr als spöttisch grinsender Wink mit dem Zaunpfahl (oder vielleicht doch eher ein Schlag mit dem Zaunpfahl) in Richtung all der geleckten und adretten Superstar-DJs und Platten legenden House-Hipsters herausstellt, die sich Nacht für Nacht mit immer flacheren Tunes zu unterbieten versuchen (“what´s he fuckin' doing?”). Mit gerade mal 2 Minuten und 46 Sekunden nicht nur der kürzeste The Prodigy-Track ever, sondern auch eine laut klatschende 21st-Century-Punkrock-Ohrfeige für alle, die schon längst einmal einen kleinen Hallo-Wach!-Macher verdient haben.
“Nur zur Klarstellung: Der Track richtet sich keinesfalls gegen die Insel, sondern gegen diese so genannten Superstar-DJs in ihren Privatjets, die ihren DJ-Set schon fertig vorproduziert auf einem USB-Stick mit sich rumtragen. What the fuck? ‘Ibiza’ ist genau für diese Typen; eine Anti-Partyhymne.” Spätestens jetzt dürfte jedem klar geworden sein, dass “The Day Is My Enemy” absolut kein Album geworden ist, das an der kuscheligen Brust des Massengeschmacks säugt. Mit allen Reglern auf 11 und bei verdunkelter Beleuchtung treten The Prodigy mit voller Wucht die Hintertür der Popkultur ein.
Mit “The Day Is My Enemy” veröffentlicht das Trio das wahrscheinlich “britischste Album” des Jahres. Natürlich nicht, was irgendwelche hurrapatriotischen Vaterlandstendenzen mit fadem Beigeschmack angeht, sondern eine Songsammlung mit tiefem Verständnis für die multikulturelle Klangvielfalt des modernen Großbritanniens und seiner nächtlichen Großstadtabenteuer. “The Day Is My Enemy” ist der vertonte Abgesang auf eine zornige Menschheit und ihre urbanen Albträume.
“I’m coming out firing on this record”. Schon gleich zu Anfang explodiert “The Day Is My Enemy” mit in einer zu allem entschlossenen Konsequenz. Schon auf dem Titel angebenden Opener entfacht Liam ein heftiges Electrogewitter, das sich über zackigen Livebeats der renommierten Schweizer Trommelgruppe The Top Secret Drum Corps entlädt – The Prodigys ganz persönlicher Kriegsmarsch, bei dem man gegen all das zu Felde zieht, gegen das man schon immer gekämpft hat. Oder wie es jemand einmal treffend ausdrückte: Ein Krieg gegen die Poser und Electro-Schwindler von heute.
Und noch bevor man richtig realisiert hat, was einen da frontal in die Magengegend getroffen hat, hat sich das akustische Schlachtfeld schon auf ganzer Breite in verbrannte Erde verwandelt. Auf der ersten Single “Nasty” feuern The Prodigy ihren über die Jahre kultivierten Trademark-Soundmix aus Electro, Rock und Punk aus allen Rohren – allen voran Frontmann Keith Flint, dem man mit seinen knurrenden Vocals lieber nicht zu nahe kommen sollte. Kein Wunder, dass Britains Tastemaker Nr. 1 – BBC Radio 1 Kultmoderator Zane Lowe – den Track kürzlich in seiner Sendung als “Hottest Record Of The World” exklusiv vorstellte. Mit vergleichbarer Durchschlagskraft schlägt auch das folgende “Rebel Radio” ein, auf dem Maxim seine Melodien wie babylonische Exocet-Raketen droppt.
“Keefs und Maxims Vocals und Lyrics auf diesem Album sind absolut fuckin' großartig”, so Liam weiter. “Sie waren nie besser. Diese Platte ist ein waschechtes Bandalbum. Die letzte Platte war davon inspiriert, wieder zusammen Musik zu machen und die positiven Vibes zu genießen. Also war auch der Sound ziemlich positiv. Auf diesem Album ging es im Vorfeld darum, uns gegenseitig zuzuhören und als Liveband zusammen zu spielen. Das Zeug klingt diesmal echt brutal; doch das kommt nun mal dabei raus, wenn wir uns treffen.”
Doch trotz seiner ungezügelten Wut besitzt “The Day Is My Enemy” auch die Art von positiver Party-Power, für die The Prodigy ebenfalls berüchtigt sind. Auf dem nach vorne pushenden “Wild Frontier” oder dem hiphoppigen Straßen-Swag “Medicine” zum Beispiel, auf dem sich Maxim zusammen mit Dancehall-König YT auf der Höhe seines Flows präsentiert, während er seinen arabischen Refrain abfeuert (‘a spoonful of sugar just to sweeten the taste, just to keep you in your place’).
Und dann gibt’s da noch das absolute Feierei-Monster “Rhythm Bomb”, auf dem sich Liam mit Dubstep-Kollege Flux Pavilion zusammen geschlossen hat, um gemeinsam den Groove des 1980er Dance-Classics “Make My Body Rock” von Jomanda zu dekonstruieren und nach typischem The Prodigy-Vorbild ganz neu zusammen zu bauen. Oldschool-Einflüsse, die schließlich auf dem Instrumental “Destroy” ihren Höhepunkt finden.
Eine Vielzahl der ersten Ideen zu den Tracks entstand nach Shows und Aftershowpartys auf dem Laptop (“ich scheine mehr zu schreiben, wenn mein Denken etwas vernebelt ist”). Mit “The Day Is My Enemy” fangen The Prodigy heute perfekt die Essenz und den Spirit ihrer mitreißenden Konzerte ein; inklusive alle ungehobelten Ecken und Kanten. Und natürlich auch aller Verspieler. “Ich liebe es, wirklich live zu spielen, statt die Dinge zu programmieren. Es würde mich langweilen, während der Gigs nur auf einen Computerbildschirm zu starren; das habe ich noch nie gemacht. Wen stört es schon, wenn man sich einmal verspielt.
Ich denke, jede falsche Note verleiht der Musik ein lebendigeres, organisches Feeling”, so Liam. Eine Live-Power, die sich auch durch Kracher wie “Get Your Fight On”, “Roadblox” (das aus einem Liveremix des älteren Stücks “Spitfire” entstanden ist), “Rok-Weiler” (nur einer der neuen Tracks, die man kürzlich unter frenetischem Jubel schon live performte) und den Rausschmeißer “Wall Of Death” (“ich wollte das Album unbedingt mit einem Track beenden, der den Leuten so richtig weh tut”) zieht.
“Ein paar Fans dürften ziemlich überrascht sein, dass es ihre Lieblings-Livesongs wie ‘Jet Fighter’ nicht aufs Album geschafft haben, doch sie waren in unseren Augen am Ende des Tages einfach nicht gut genug. Als wir das Material für die Platte zusammenstellten, waren die Songs, die wir als letztes geschrieben haben, viel besser, als die, die wir schon live vorgestellt hatten.” Abfallmaterial, für das andere Sterbliche ihre Preset-Seelen verkaufen würden und das nach Liams wahrem Kreativitätsschub auf der Müllhalde gelandet ist.
Ein weiteres Zeichen für die absolute Stärke und Durchschlagskraft von “The Day Is My Enemy”, die sich nicht zuletzt auch in den kopfkinohaft-scorigen Tracks wie “Beyond The Deathray” oder “Invisible Sun” widerspiegelt, auf denen The Prodigy eine Art urbane Industrial-Finsternis herauf beschwören. Als würde H.R. Gigers “Alien” wieder auf Menschenjagd gehen – diesmal allerdings in den Straßenschluchten von London. Mit “The Day Is My Enemy” legen The Prodigy nun ihr unberechenbarstes, gefährlichstes Album vor. Furchtlos, unbehelligt, vogelfrei, unantastbar.
Mehr von The Prodigy