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Wayne Shorter: Footprints live!

Wayne Shorter 2013 © Robert Ascroft
31.05.2002
Obwohl der Saxophonist Wayne Shorter, der nächstes Jahr seinen 70. Geburtstag begehen wird, schon seit einem guten halben Jahrhundert in der Jazzszene tätig ist, stellt “Footprints Live!” das erste Live-Album dar, das er unter eigenem Namen eingespielt hat. Doch damit noch nicht genug: “Footprints Live!” ist zugleich auch Shorters erstes rein akustisches Album seit 1967 und sein erstes Soloalbum nach “High Life” aus dem Jahre 1994. Darüber hinaus ist diese Live-Aufnahme ein Dokument der ersten Tournee, die Shorter mit seinem neuen akustischen Quartett unternahm.
Außerdem konzentriert sich Shorter, der über einen langen Zeitraum stets dem Sopransaxophon den Vorzug gab, hier erstmals wieder auf das Tenorsaxophon, zu dem er bei sieben der acht Tracks von “Footprints Live!” greift. Das Repertoire setzt sich aus einigen der bekanntesten und populärsten Kompositionen des Saxophonisten zusammen (“Footprints”, “JuJu”, “Masqualero”, “Sanctuary”, “Atlantis”, “Go” und “Aung San Suu Kyi”) und enthält mit Jean Sibelius “Valse Triste” nur eine Fremdkomposition..
“Für mich macht es keinen Unterschied, ob ein Album im Studio oder vor Publikum aufgenommen wird”, meint der vierfache Grammy-Gewinner Shorter, der zu den angesehensten Musikern und Komponisten des Jazz zählt. “Wir gehen immer auf die gleiche Weise an die Musik heran: eine Einspielung ist so oder so nur eine Momentaufnahme. In beiden Umfeldern geht es um dieselbe Sache: Das Abenteuer, die Musik zu finden. Wir Musiker lassen uns von unserer Neugier leiten, betreiben untereinander Konversation und lassen Geschichten entstehen.”
Shorter erinnert sich noch gut an einen Auftritt der Band in Japan. Nach dem Konzert gesellte sich eine junge Journalistin zu Shorter und seinen Mitmusikern, um ihnen ihre Begeisterung zu schildern. “Sie sagte: ?Das ist genau das, was die jungen Leute hören wollen. Wir wollen überrascht werden und nicht schon im voraus wissen, was als nächstes passiert.? Nun, das ist ja genau der Sinn und Zweck von Originalität.”
Um diese abenteuerliche Alchemie zu erreichen und den Akt der spontanen Musikwerdung zu feiern, stellte Shorter sein neues Ensemble mit Pianist Danilo Pérez, Bassist John Patitucci und Schlagzeuger Brian Blade zusammen. "Danilo, John und Brian sind selber Bandleader und wissen deshalb genau, was zu tun ist. Bevor wir letzten Sommer auf unsere erste Tournee gingen, absolvierten wir nur ein paar Auftritte. Auf vorherige Proben haben wir ganz verzichtet. Es lief nach dem Motto: “Okay, ab die Post” und zack! Keiner mußte dem anderen groß auf die Finger schauen und es mußte auch nichts vorher abgesprochen werden. Es gab kein “Wir sollten-oder-könnten”, auch kein “Ich-wünschte-wir-hätten-das-probiert”. Pustekuchen! Uns ging es um Musik, die frei sein sollte von dieser Sorte technischer Feinheiten, die letztendlich alles durchschaubar und voraussagbar machen. Wir wollten schlicht eine Geschichte herausgreifen und sie erzählen."
Derselbe kreative Geist beseelte einst auch das klassische Miles Davis Quintet, in dem Shorter von 1964 bis 1970 zusammen mit Herbie Hancock, Ron Carter und Tony Williams spielte. Der Saxophonist, der zuvor Mitglied von Art Blakeys Jazz Messengers gewesen war, startete in den 60ern auch seine beeindruckende Solokarriere. Anfang der 70er Jahre verließ er Miles' Band, um mit dem Keyboarder Joe Zawinul die ungeheuer erfolgreiche Fusionband Weather Report zu gründen. Nach dem Ausstieg bei Weather Report 1985 spielte Shorter noch drei Soloalben für Columbia ein, bevor es dann drei Jahre später – nach “Joy Ryder” – still um ihn wurde.
Erst 1994 unterschrieb Shorter einen neuen Plattenvertrag bei dem Label Verve, für das er seither zwei Alben aufnahm: 1994 “High Life”, für das Shorter einen Grammy in der Kategorie “beste zeitgenössische Jazz-Performance” erhielt, und 1997 im Duett mit Herbie Hancock “1+1”, das dem Saxophonisten für die Komposition “Aung San Suu Kyi” (die auch auf dem jetzigen Live-Album präsentiert wird) einen weiteren Grammy einbrachte. “Footprints Live!” ist für Shorter, der nie so viele Alben auf den Markt warf wie seine Kollegen, also erst die dritte Einspielung in acht Jahren bei Verve.
Brian Blade, den Schlagzeuger seines neuen Quartetts, hörte Shorter das erste Mal, als dieser mit Chick Corea in Japan auftrat. Seitdem verfolgte der Saxophonist sehr aufmerksam dessen Werdegang. Besonders beeindruckte ihn, als Blade begann mit Joni Mitchell zu arbeiten. Shorter selbst hat bekanntlich zwischen 1977 und 2000 auf zehn Alben der Sängerin mitgewirkt. “Ich hörte Brian mit Joni spielen. Er machte da so ausgefallene Sachen wie etwa die Trommeln mit der Hand zu spielen”, erzählt Shorter. “Da war mir klar, daß ich bei dem Typen mit meiner Musik offene Türen einrennen würde. Seltsamerweise ist er selbst aber nie an mich herangetreten.”
Blades ekstatische Aufschreie kann man auf “Footprints Live!” gleich mehrfach vernehmen. Da Blade ansonsten eher zurückhaltender Natur ist, überraschte er Shorter anfangs sehr mit diesen Sorte von Begeisterungskundgebungen. “Wir spielten in Frankreich und ich hörte plötzlich dieses ?Yeow!? hinter mir”, erinnert sich Shorter amüsiert. "Damals hatte ich noch keine Ahnung, daß Brian dafür verantwortlich war. Ich drehte mich langsam herum und starrte John an. Der meinte nur: “Ja, das ist Brian.” Das Coole ist, daß diese Aufschreie nicht geplant sind. Sie sind authentisch."
Auch auf John Patitucci wurde Shorter aufmerksam, als der Bassist noch fest in Coreas Gruppe spielte. “Als John nach New York zog, fiel mir auf, wie sehr er sich als Künstler weiterentwickelte”, erzählt Shorter. “Er zieht wirklich Aufmerksamkeit auf sich, und er nimmt sich die Freiheit, sich auszusuchen, mit wem er zusammenspielt. Ich war angenehm überrascht, ihn mit einem erfahrenen Hasen wie Roy Haynes arbeiten zu sehen. John erzählte mir, daß er in Roys Band jede Menge Spaß hatte.”
Danilo Pérez wiederum hörte Shorter zum ersten Mal ganz bewußt in einer Fernsehsendung, wo der Pianist mit Dizzy Gillespies Band zu Gast war. Später traf er ihn persönlich beim Thelonious Monk-Wettbewerb, wo Pérez mit Herbie Hancock und Randy Weston als Juror fungierte. “Danilos Pianospiel ist sehr abenteuerlich und frisch”, meint Shorter. “Er spielte nicht, um seine brillante Technik zur Schau zu stellen. Er ist mehr daran interessiert, auf seinem Piano Geschichten zu erzählen.”
“Footprints Live!” präsentiert Songs, die Shorter noch nie live mit einer eigenen Band gespielt hat. Das Programm beginnt sehr andächtig mit “Sanctuary”, einem Stück, das zweimal von Miles aufgenommen wurde: 1968 in einer akustischen Version, die allerdings nie veröffentlicht wurde, und 1969 in einer elektrifizierten Variante, die schließlich auf “Bitches Brew” erschien. “Das Stück sollte nie ein Vehikel für akrobatische Spirenzchen sein”, erläutert Shorter. “Es ist ein bißchen so wie ein kleiner Wirbelwind, der immer mehr an Rotationskraft gewinnt. Es beginnt langsam und dreht sich dann schneller und schneller. Ich denke, es schafft die richtige Atmosphäre für die restlichen Titel des Albums.”
Im lyrischen “Masqualero” fesselt einen die Band mit sublimen Interaktionen. Das Stück wurde 1967 erstmals von Miles Davis auf Platte (“Sorcerer”) gebannt. Der Saxophonist weist darauf hin, daß er den Titel dem Namen eines Apachen-Unterstammes verdankt. “Ich habe erst kürzlich entdeckt, daß ich Cherokee-Vorfahren habe”, fügt er hinzu. “Deshalb dachte ich, es wäre angebracht, das Stück einer Revision zu unterziehen.”
“La Valse Triste”, das auf einem Auszug aus einer Symphonie von Jean Sibelius basiert, spielte Shorter 1965 zum ersten Mal für sein Album “The Soothsayer” ein. Das Quartett beginnt hier zunächst recht verspielt, bevor es Pérez mit einem explosivem Pianosolo und Shorter mit expressiven Einwürfen zu Höhepunkten vorantreiben. “An der Art, wie sich hier die Harmonien bewegen, hätte Art Tatum seine helle Freude gehabt”, sinniert Shorter. “Es ist der Tanz der Traurigkeit. Meine Hommage gilt in erster Linie dem Menschen Sibelius und erst dann dem Musiker.”
Von Shorters letztem akustischen Album “Schizophrenia” (1967) stammt der Titel “Go”. Ein wahres Juwel in dieser Live-Kollektion. Das Stück wird von Blade mit einem erregenden Rhythmus eröffnet, bevor Shorters Tenosax es mit melodischer Linienführung in ruhigere Bahnen lenkt. “Es ist ein meditatives Stück”, meint der Saxophonist. "Es ist ein Stilleben-Porträt des Wortes “Go”."
“Aung San Suu Kyi” erschien zwar erst 1997 auf “1+1”, dem weltweit gefeierten Duo-Album von Herbie Hancock und Wayne Shorter, entstand nach Aussage des Saxophonisten aber eigentlich schon wesentlich früher. “Ich schrieb es bereits 1952 oder 53 für den Harmonielehre-Unterricht an der New York University”, gewährt Shorter Einblick. “Ich schrieb dieses kleine Stück als Hausaufgabe und mußte es dann vor der Klasse präsentieren. So mußte ich also mit meinen ungeschickten Fingern die Töne auf den Tasten des Pianos zusammensuchen. Mein Lehrer meinte danach: ?Ich glaube, du hast da einen interessanten Ansatz gefunden. Es klingt, als würdest du zeitgenössische Stile so miteinander vermischen, daß du ohne Beschränkungen spielen kannst.? Das Stück bewahrte ich in meinem Pianobänkchen auf, bis ich es dort 1997 herausholte.”

Eine der großartigsten und am häufigsten aufgenommenen Kompositionen des Jazz ist “Footprints”. Dem Quartett liefert das Stück die Vorlage für eine seiner brillantesten Exkursionen. “Footprints” wurde ursprünglich 1966 auf Shorters Soloalbum “Adam?s Apple” veröffentlicht, erschien im gleichen Jahr aber auch noch auf Miles Davis? Klassiker “Miles Smiles”. “Das Stück war eine spontane Zugabe”, sagt Shorter. “Wir hatten es so – mit dieser Koda – noch nie zuvor gespielt. Es ist heiteres Stück, das zu verstehen gibt, daß alle Fußabdrücke zu einem ewigen Abenteuer führen.”
“Atlantis”, das Titelstück von Shorters 1985 erschienenen Columbia-Soloalbum, bietet einmal mehr spannende Interaktionen des Tenorsaxophonisten mit dem Pianisten Danilo Pérez. “Dieses Stück ist für mich wie ein gutes Buch, das man nicht aus der Hand legen kann. Wenn man erst einmal richtig in Fahrt ist, macht man sich schon im voraus Gedanken, was einen hinter der nächsten Ecke erwarten könnte. Und Johns tänzelndem Bass könnte man wohl bis in alle Ewigkeiten folgen, ohne daß einem langweilig werden würde.”
Am Ende des Albums steht mit “JuJu”, dem Titelstück von Shorters 1964 veröffentlichten Blue Note-Album, ein weiterer sehr abenteuerlicher Track, den diesmal John Patitucci mit seinem gestrichenen Bass einleitet und der sich dann plötzlich zu einem tanzähnlichen musikalischen Dialog entwickelt. Shorter, der hier während der Performance vom Tenor- zum Sopransaxophon wechselt, brilliert vor allem in der Passage, wo er von hohen, klagenden Tönen plötzlich zu einer wundervollen Melodielinie übergeht, die dann wiederum ebenso abrupt rhythmischen Drive erhält. “Die Akkorde dieses Songs haben etwas mysteriöses”, meint Shorter. “Ich mag das. Dieser Song soll die Leute aufwühlen und aus der Reserve locken.”
“Footprints Live!” ist eines der heute seltenen Jazzalben, wo noch der Geist der Kreativität regiert. Es ging Wayne Shorter nicht einfach darum, das handwerkliche Können der beteiligten Musiker zu demonstrieren, sondern die vier Bandmitglieder wie eine untrennbare Einheit klingen zu lassen. “Wenn man als junger Musiker mit anderen zusammenarbeitet, hat man schnell heraus, wer zu einer bestimmten Zeit was spielen wird. So garantiert man, daß man den anderen nicht in ihre Soli hereinpfuscht. Wir haben uns hier aber vom Prinzip der ?Nicht-Einmischung? verabschiedet. Es gibt soviel mehr zu entdecken, wenn jeder spontan kundtun darf, was ihm gerade einfällt, und wenn man eine Geschichte gemeinsam erzählt und jeder Details beisteuern kann.”

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