Elbow | Biografie

Biografie 2016

Elbow ‘Little Ficton’ 2016
“Es ist ein gewaltiger Schritt nach vorne für uns. Es war wieder dieses Feeling, das schon in der Luft lag, als wir ‘The Seldom Seen Kid’ aufgenommen haben. Es ist der Sound von vier Menschen, die lieben, was sie tun – und die einander lieben.“ MARK POTTER
”Ich will jedes Mal neue Leute mit unserer Musik erreichen, andere Menschen damit ansprechen und einfach weiterkommen mit dem, was wir machen.“ PETE TURNER
“Die Songs haben gleich auf Anhieb auf ganz natürliche Art und Weise funktioniert. Sie sollten auch ganz minimalistisch funktionieren, und alles, was diese Auflage nicht erfüllte, wurde aussortiert. So kam das ganze Album wie von selbst zusammen.“ CRAIG POTTER
”Es fing an mit einer ganzen Woche, die wir im Januar um ein Feuer in der Eiseskälte von Schottland gesessen haben, und es endete mit einer dreitätigen Session in Salford im November, während der wir sogar ohne Schlafpause auskommen mussten. In der Zeit dazwischen sind ein paar wirklich umwerfende Dinge passiert. All das ist hier drauf zu hören.“ GUY GARVEY
 
“Es“ entstand an einem Punkt des Umbruchs, nachdem diese Band, die schließlich zwei Jahrzehnte lang fünf eingeschworene Mitglieder gezählt hatte, plötzlich nur noch vierköpfig war, weil (Ex-) Schlagzeuger Richard Jupp direkt vor der allerersten Session das Handtuch geworfen hatte. Ein Entschluss, der für die Verbleibenden alles verändern sollte, ja eine ganz neue Dynamik, neue Ansätze, Freiräume und kreative Wege mit sich brachte.
”Es“ ist in vielerlei Hinsicht die Quintessenz dessen, was elbow seit ihren ersten "großen Erfolgen“ im Jahr 1999 zu einem derartigen Ausnahmephänomen gemacht hat. Die Mitglieder und auch alle anderen, die das Glück hatten, "es“ jetzt schon hören zu dürfen, wissen auch: "Es“ ist ganz klar ein Schritt auf musikalisches Neuland.
Dieses “Es“, von dem hier nun also die Rede ist, ist ”Little Fictions“. Es ist das siebte Studioalbum von elbow – und momentan, also in jenen Tagen, in denen diese Zeilen hier geschrieben werden, ist “es“ für alle vier verbleibenden Bandmitglieder ganz klar das persönliche Lieblingsalbum aus dem eigenen Backkatalog.
Schon die erste Single ”Magnificent (She Says)“ vereint die zentralen Veränderungen und jenen neuen Ansatz, den die Band auch selbst als ihre aktuelle Herangehensweise identifiziert. Es ist ein lebensbejahendes, wirklich durch und durch ausgelassenes Stück: Die Art von Song also, die auf ihren Vorgängeralben wohl eher hinterfragt worden wäre, ja für Kopfzerbrechen gesorgt hätte. Dieses Mal jedoch nicht: Von seinem Produzentenstuhl aus kommentiert Craig, dass "es sich ganz natürlich angefühlt hat“. Laut Pete hat "es sich in die einzige Richtung entwickelt, in die es gehen konnte.“ Mark hingegen spricht von "dem Song, den die Leute schon immer von uns hören wollten“, während der ungeniert ausgelassene Titel und der dazugehörige Refrain "einfach das erste waren, was mir dazu über die Lippen kam“ – wie Guy ergänzt. Auch die Tatsache, dass sie gerade mit diesem Stück das neue Album eröffnen, ist kein Zufall, denn "wir wollen damit sogar noch einmal unterstreichen, dass es ein cooler Song ist: Dass wir wirklich unglaublich stolz sind auf dieses Stück“, so ein selbstbewusster Mark.
Als sich die vier alten Freunde im eiskalten schottischen Januar des Jahres 2016 erstmals am offenen Feuer trafen, war ein derartiges Selbstbewusstsein, derartige Klarheit noch in weiter Ferne: Das Album, das da vor ihnen lag, war bloß ein leeres Blatt. Und Pete gesteht ganz offen, dass die ersten Tage "ganz schön viel Alkohol im Spiel und sie auch nicht besonders produktiv“ waren; doch als die Band dann in derjenigen “kreativen Zone angekommen war, wo wir uns alle treffen“ – laut Mark ist genau diese Zone, dieser Kern die eigentliche Essenz von elbow –, nahmen auch die ersten Songs so langsam konkrete Formen an.
Ihren bekannten Hang zu Experimenten lebten sie dabei richtig aus: So basiert z.B. das Rhythmusfundament von ”Kindling“ auf einem Loop, für den sie das Fallgeräusch ihrer Feuerholzsäcke aufnahmen (daher auch der Titel des Songs, zu Deutsch “Anzündholz“). Auch ”Head for Supplies“, ein leise vertontes Gegenstück zur Geschichte, in der eine neue Liebe entfacht wird, kristallisierte sich schon in diesen ersten Tagen heraus.
Wieder ganz neu und aufregend fühlte sich der Prozess dieses Mal auch deshalb an, weil es das erste Album von elbow ist, bei dem alle vier Mitglieder zuvor an Solo- bzw. Seitenprojekten gearbeitet hatten: Guy war mit einem Bein noch auf Tour zu seinem Soloalbum; außerdem kuratierte er das Meltdown-Festival an der Londoner South Bank. Mark hatte zwischenzeitlich die Bluescombo The Plumedores gegründet und sich daher wieder verstärkt auf E-Gitarren und Auftritte in ganz kleinen Schuppen konzentriert. Craig produzierte gerade das Soloalbum von Steve Mason, und Pete schrieb zu der Zeit gerade an Songs, die zwar bislang noch nicht veröffentlicht worden sind – aber er selbst sagt, dass das auf jeden Fall noch geschehen wird.
Phase 2 der Entstehung von “Little Fictions“ bestand nun darin, dass elbow zunächst einen Bogen um die angestammten Blueprint Studios machten und stattdessen in weniger urbanen Gefilden eincheckten: Craig, Mark und Pete kamen zu Guy nach Hause, um in dessen eigenem Homestudio zu arbeiten. Und dort, an jenem etwas nördlich von Manchester gelegenen Ort, nahm ”Little Fictions“ langsam immer konkretere Formen an. Ob sie sich nun auf ihre Soloexkurse oder auf das Freiheitsgefühl beziehen, das zuletzt während der Aufnahmen zu "The Seldom Seen Kid“ in der Luft gelegen haben soll: Die komplette Band bezeichnet diese Sessions rückblickend als "absolut ausgelassen“ und “wirklich frei“.
Auch die alte Angewohnheit, alles zu versuchen, damit eine Idee funktioniert, landete in der Tonne: Wenn ein Song keinen Flow hatte, wurde er halt aussortiert – und wenn schon eine frühe Demoversion am besten klang, dann war die es eben. Kurz gesagt: Es gab keine vorgefassten Bilder, keine festen Regeln, keine großen Pläne. Alle Routinen, alle Sicherheiten, die zuvor gegolten hatten, waren zusammen mit den angestammten Arbeitsweisen erst mal vom Tisch. Die gewaltigen Streicher hat ”Magnificent (She Says)“ also nur deshalb, weil sie so perfekt funktionierten: Angelehnt an die ursprüngliche Gitarrenidee von Mark, also nicht einfach bloß draufgeklatscht, weil sie aus irgendeinem Grund dort sein mussten. Auch die Stimmen der Background-Sänger – drei Mitglieder von London Contemporary Voices, die auf “All Disco“, ”Firebrand & Angel“ und "Head for Supplies“ zu hören sind –, wurden ergänzt, weil die Band den Wunsch hatte, “mit echt großartigen Gaststimmen zu arbeiten und die auch wirklich voll auszuschöpfen: Sie also nicht wie bei unseren früheren, eigenen Background-Gesängen zwischen diversen Klangschichten zu verstecken“, wie Craig ganz offen berichtet.  
Obwohl diese Band noch nie zu irgendwelchen Rockstar-Mythen geneigt hat – ja genau genommen zu gar nichts mit der Vorsilbe Rockstar- neigt (was prustend vorgetragene Anekdoten von Pete und Mark wunderschön belegen, in denen sie darlegen, wie ihre Kinder den seltsam-unklaren ‘Seid-ihr-nun-berühmt-oder-nicht’-Status der Band thematisieren) –, lassen alle vier Mitglieder es so klingen, als ob dieses neue Album zum Teil fast unbewusst, quasi wie von selbst entstanden ist.
Die zentrale Rolle von Mark Potter und dessen neuerdings so wichtiger E-Gitarre ist einer der deutlichsten Indikatoren, was die neue Ausrichtung dieses Albums angeht: Sein E-Gitarrenspiel ist nicht nur das zentrale Element von ”All Disco“, denn es ist wirklich allgegenwärtig auf dieser LP. Doch ist auch das eine Entwicklung, über die während des Schreibprozesses nicht besonders viel nachgedacht wurde; ja laut eigener Aussage hat Mark selbst erst in der allerletzten Woche bemerkt, “dass auf diesem Album ja überhaupt keine angeschlagenen Akustikgitarrenpassagen zu hören sind.“ Als dann in den verbleibenden sieben Tagen genau eine derartig bearbeitete Akustikklampfe doch noch ihren Weg auf ”Head for Supplies“ fand, war auch das nur der Tatsache geschuldet, dass der Song genau dieses Element brauchte – um ein bloßes Abhaken sämtlicher Kriterien und Zutaten ging’s auch hier nicht.
Und natürlich äußert sich dieser offenere Ansatz in einer sehr viel größer angelegten musikalischen Palette: Die Rhythmen, die “Gentle Storm“ durchziehen – ein treibender Beat, der auch an einer Straßenecke im Washington, D.C. der Go-Go-Ära vor 30–40 Jahren gut gepasst hätte – rufen einem sofort ins Gedächtnis, dass elbow ja schon immer eine Schwäche für Hip-Hop hatten. Das mächtige Intro von ”All Disco“ klingt nach Psychedelic der Sechziger und Alt-Rock der Achtziger zugleich: Zwei Referenzen, an die sich die Band laut Guy in der Vergangenheit nicht so recht herangewagt hat, weil “da einfach so viel ‘Coolness’, so viel musikalisches Gewicht für uns dranhing.“ Wie wichtig die Faktoren Groove und Soul sind, hört man auf ”Firebrand & Angel“: Es ist das größte, umfangreichste Statement in elbows bisheriger Diskografie, und auch hier hört man ganz deutlich diesen unbedingten Willen, einzig und allein auf das eigene Bauchgefühl zu hören – und zugleich hört man die ausgelassene, erfüllte Stimmung in diesem Studio, in dem zwischendurch immer wieder viel gelacht wird.
In eine ähnliche Kerbe schlägt auch das epische Titelstück "Little Fictions“, das ab sofort offiziell als längster Song der Band gelten darf: Auch dieser Track ist nicht das Resultat einer konkreten Planung, eines Draufhinarbeitens, sondern, um es mit den von allen bestätigten Worten von Craig zu sagen, "war da dieser Drang, den Song sich nach und nach entwickeln zu lassen, während des Spielens. Wir wollten ihm erlauben, sich dorthin zu bewegen, wo er sich hinbewegen musste.“ Es ist eine wirklich bemerkenswerte Komposition, die unglaublich viele Facetten dieser Band vereint: z.B. wie sie es beherrschen, Freiräume zu nutzen, um im minimalistischen Refrain Spannung zu erzeugen, oder auch wie viel Freude es ihnen offensichtlich macht, seit "Newborn“ mit Soundtexturen und Strukturen zu experimentieren… Was mit einer von Guy Garveys “Ungewöhnliche Alltagsszenen“-Miniaturen beginnt – ”a muffled battle cry across the kitchen table“ –, entpuppt sich als absolut würdiger Titeltrack, weil schon hier ein großer Teil der klanglichen Regionen angeschnitten wird, der Song das gesamte Album insofern auch musikalisch schon in sich trägt.
Und doch blieb auch einiges beim Alten: Nach der Entstehung in der Dachkammer landeten auch diese Aufnahmen in den Blueprint Studios in Salford. Auch waren die Streicher des Hallé Orchestras, quasi der verlängerte, mit ganz anderen Instrumenten vertraute Arm der Band, wieder zugegen, um Songs wie “Magnificent (She Says)“ und ”Kindling“ mit ihrem brillanten Spiel zu verfeinern; und ebenfalls aus der Gegend stammt auch der Hallé Ancoats Community Choir, der im Fall von “K2“ aushalf. Was die Texte von Guy angeht, so bewegt er sich schon durch bekannte Regionen, liefert aber auch neue Blickwinkel und ungewohnte Perspektiven: Der gerade erwähnte Song ”K2“ ist z.B. von seinem ersten Trip nach Indien inspiriert, wo er “von der Schönheit umgehauen und von der Armut schockiert“ war. Zugleich handelt der Song auch von den jüngsten politischen Umwälzungen in Großbritannien: Die erste Strophe verhandelt die Wutgefühle, die noch direkt vor dem Brexit-Votum in der Luft lagen, Strophe zwei dann schon die Reaktion auf das Ergebnis – mit zunehmend surreal-absurden Metaphern, bis sich unser Held ganz am Schluss eingewickelt in lokale Strickerzeugnisse in Südamerika wiederfindet, um der grauenvollen Realität zu entkommen. Tatsächlich haben nur wenige Kommentatoren den Schock ähnlich treffend formuliert wie Guy, der hier singt:
 ”I’m from a land with an island status
Makes us think that everyone hates us.“
Guys schon mehrfach artikulierte Liebe zu New York war schließlich dafür verantwortlich, dem rechtwinkligen Straßenplan der Metropole zwei mythische (okay: fiktionale) Neueinträge zu bescheren: Die Straßenecke "Firebrand & Angel“ nämlich. Die Sichtweise des Sängers ist dabei nach wie vor die des zuversichtlichen Analytikers: Er sieht das Schlechte, blickt aber unnachgiebig auf das Gute, auf die Liebe, die Freundschaft, die angeborene Güte der Menschen, um die Welt so zu einem besseren Ort zu machen. “Wahnsinnig tolle Sachen sind mir passiert“, so sein euphorisches Fazit des Jahres 2016. Und kein Wunder auch, dass der Titelsong des Albums mit der mutigen Behauptung ”love is the original miracle“ endet: Die Liebe ist für Guy Garvey das eigentliche, das allergrößte Wunder.
Dazu passt auch die Antwort der gesamten Band, die auf jene gefühlte Trostlosigkeit, die weite Teile des Entstehungsjahres auszeichneten, mit Humor reagiert – wenn auch mit schwärzerem als zuvor. Auf die Frage, wie sie sich und ihre Position denn selbst betrachten, hört man von allen vier Mitgliedern exakt dieselben zwei Worte: Lucky bastards – verdammte Glückspilze. Typen, die sich deshalb glücklich schätzen, weil sie immer noch diejenige Musik machen können, die sie lieben, weil sie immer noch mit denselben Freunden, mit denen sie schon vor Jahrzehnten durchs Leben gingen, dieses Abenteuer fortsetzen können, weil sie immer noch diesen "buzz“ spüren – Pete Turners Wortwahl, wenn es um den Moment geht, an dem bei einem Song plötzlich alles passt: Ein Gefühl, das ihre Musik nicht nur ihnen, sondern auch so vielen anderen Menschen immer wieder gibt. Dabei geht es hier nicht nur um Glück. Es geht auch um ein Verlangen. Mark, der laut Guy in jenen Zeiten vor dem Durchbruch, als sie noch keiner kannte, als nur ein paar Gäste aus der Gegend zu ihren Konzerten kamen, immer der größte Optimist in der Band war, sagt, dass er "einfach große Alben“ machen will: "Alben, die den Menschen etwas bedeuten, die einen Widerhall haben in der Musikgeschichte. Die Art von Alben, mit denen wir aufgewachsen sind, und die wir noch heute als Stoßrichtung, als Messlatte ansetzen.“ Das kreative Feuer ist immer noch dasselbe. Kein bisschen dunkler, kein bisschen schwächer.
Abschließend fasst Guy den Entstehungsprozess des neuen Albums zusammen mit den Worten: “kopfüber und dabei doch zufrieden an den Seilen eines fehlgeleiteten Ballons hängen“. Und wieder ist es die perfekte Metapher, die wie keine andere Zeile auf den Punkt bringt, wie es um elbow zum Jahreswechsel 2016/2017 steht. Ihr Kurs basiert inzwischen gänzlich auf Instinkten; was sie persönlich begeistert, umhaut, gibt musikalisch die Richtung vor; ihre tiefe Freundschaft und die Liebe zu dem, was sie gemeinsam tun, bestimmt ihr weiteres Geschick. Indem sie wieder einmal gelernt haben, was es bedeutet, elbow zu sein, haben diese vier Herren etwas Neues geschaffen, etwas unglaublich Schönes. Noch klarer sagt es Guy im Eröffnungssong: ”It’s all gonna be magnificent“.
– von Lewis Jamieson, im November 2016
 
Album: Little Fictions
VÖ: 03.02.2017
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