Alex Clare | Biografie

Alex Clare, “Three Hearts”, 2014

Im Leben von Alex Clare ist wahnsinnig viel passiert, seit er vor drei Jahren, im Sommer 2011, mit The Lateness of the Hour sein Debütalbum vorgelegt hat. Zunächst war da die Sache mit seinem Label, denn obwohl das Debüt des Londoners von den Kritikern gewissermaßen unisono abgefeiert worden war, fiel der Hype dann doch geringer aus, als ursprünglich erwartet – und so waren die Scheidungspapiere quasi schon eingereicht… Da Alex jedoch die Dinge so oder so stets gelassen angeht, hatte er auch diese Sache recht gut überstanden, indem er einfach weiter an neuen Songs feilte – und nebenher in Restaurants arbeitete (schließlich ist er ein ausgebildeter Koch, der die Schürze nur wegen der Musik an den Nagel gehängt hatte). Bald darauf hatte er sich, nachdem sein Interesse für das orthodoxe Judentum immer größer geworden war, in einer israelischen Jeschiwa intensiv dem Talmud-Studium gewidmet, und dort erfuhr er schließlich auch davon, dass Microsoft seinen Song „Too Close“, ursprünglich die zweite Auskopplung aus dem Debütalbum, für einen Spot einsetzen wollte, mit dem der Launch des Internet Explorer 9 angekündigt werden sollte…
In Handumdrehen ein globaler Hit, sollte sich „Too Close“ nach dem Launch der Kampagne sage und schreibe fünf Millionen Mal verkaufen: Der 1. Platz in den deutschen Charts war nur die Spitze des Eisbergs, denn auch in UK landete der Track auf Platz 4 und in den USA auf Platz 7. Während von The Lateness of the Hour daraufhin ebenfalls mehr als 500.000 Exemplare über den Tresen gingen, trat Alex, inzwischen wieder ohne Schürze, eine Tour um den Globus an, zu deren Highlights ein gefeierter Auftritt beim Coachella Festival genauso gehörte wie restlos ausverkaufte Shows quer durch die USA und Europa. Parallel dazu fand er auch noch die Zeit, um bei zwei Songs von Rudimentals „Home“-Album als Vokalgast auszuhelfen – unter anderem auf der Hitsingle „Not Giving In“ –, gefolgt von weiteren Gastauftritten: Mal sang er bei „Endorphines“ von Sub Focus mit, dann teilte er sich für „Give It All“ das Mikrofon mit Don Diablo und Kelis. Jeder einzelne dieser Tracks sorgte dafür, dass Alex Clare binnen kürzester Zeit zu einem der gefragtesten Sänger und Songwriter aus UK avancieren sollte.  
Viel ist also passiert im Leben von Alex Clare, in diesen letzten drei Jahren, doch gab es noch zwei Ereignisse in diesem Leben, die laut Alex alles andere in den Schatten stellen und viel bedeutsamer sind: Seine Hochzeit und – vor acht Monaten – die Geburt seiner Tochter. Nun gilt es inzwischen fast schon als erwiesen, dass die Aufgaben und Pflichten, die so ein neugeborenes Kind mit sich bringen, in der Regel keinen guten Einfluss auf die Kreativität eines Menschen haben (schon 1938 schrieb der einflussreiche Brite Cyril Connolly: „Es gibt keinen trübsinnigeren Feind der guten Kunst, als den Kinderwagen im Hauseingang“), doch sieht Alex das ehrlich gesagt genau umgekehrt: „Nie und nimmer würde ich dieser Behauptung zustimmen“, sagt er, als wir uns zum Gespräch treffen. „Im Gegenteil: Als ich davon erfuhr, dass meine Frau schwanger war, hat mir das erst mal einen massiven Kreativitätsschub gegeben. Weite Teile des neuen Albums handeln schließlich auch von diesen gewaltigen Veränderungen, die ich durchlebt habe, und sie handeln von Hoffnung, von einem optimistischen Blick in die Zukunft. Vater zu werden ist definitiv das Überwältigendste, das Verrückteste, was mir je passiert ist, und meine Kreativität hat das nun wirklich kein bisschen eingeschränkt. Man braucht doch eine Muse, wenn man Musik macht, eine Sache, auf die man sich voll und ganz konzentriert. Und ich würde mal sagen, dass wir es hier mit einer ziemlich perfekten Muse zu tun haben: Das Wunder des Lebens höchstpersönlich.“
Three Hearts, das neue Album von Alex Clare, zeugt von diesem Wunder, beleuchtet all seine Facetten ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, und geht genau deshalb sofort unter die Haut. Aufgenommen in London und Los Angeles, gehen übrigens, wie Alex lachend meint, „deutlich weniger Meilen auf das Konto dieses Albums, als das bei The Lateness of the Hour der Fall war.“ Was die kreativen Mitstreiter angeht, hat er dieses Mal auf Dan Wilson (Adele, Taylor Swift), Antony Genn und Martin Slattery von The Hours, sowie Ben Hudson gesetzt, um mit ihnen ein Album aufzunehmen, das in der Tat ganz andere Gefühle umkreist als sein Debüt: „Ja, die neuen Songs handeln ganz klar von diesen großen Veränderungen, die wir angesprochen haben. The Lateness of the Hour war ein sehr reinigendes Album für mich: Ich konnte in den Songs sehr viel Ballast loswerden, es ging um Katharsis. Das neue Album funktioniert dagegen eher wie eine Danksagung: Ich sage danke für all die guten Dinge, die mir in den letzten Jahren passiert sind.“  
Auch macht Alex keinerlei Anstalten, sich dafür zu rechtfertigen, dass gleich mehrere der neuen Songs ganz offen von der Freude handeln, die ihm Eheleben und Vaterschaft offensichtlich bereiten – wobei auch die Ängste, die beide mit sich bringen, durchaus anklingen. Das fast schon andächtig klingende „Holding On“ ist ein deutliches Beispiel dafür: Der Gesang von Alex – die Stimme klingt hier fast so verletzlich wie die von Harry Nilsson –, das Klavier und die Streicher machen irgendwann Platz für unfassbar satte Beats, die explosionsartig hereinbrechen (und durchaus als vertonte Metapher für die Unberechenbarkeit der Außenwelt gelten dürfen, während Alex seine Familie vor genau diesen Dingen beschützen will). Auch „Never Let You Go“ und die erste Singleauskopplung „War Rages On“ schlagen in eine vergleichbar persönliche Kerbe: Ersterer Song zelebriert die Liebe und eine feste, lebenslange Bindung mit viel Bläser-Nachdruck, während „War Rages On“ derjenige Song ist, der am ehesten an den Sound von The Lateness of the Hour anknüpft, wenn seine Stimme auf krasse Soundlandschaften und fette Beats à la Diplo & Switch trifft. Auch der Titelsong „Three Hearts“ ist extrem ansteckend, wenn Handclaps den zwischen Blues und Soul gelagerten Beat vorantreiben; der Text dazu dreht sich um die gemeinsame Zukunft, die diese drei Herzen erwartet. „Wenn man ehrlich ist in seinen Songs – und überhaupt ein ehrliches Leben führt“, meint Alex, „und dieses Leben dann also in seinen Songs verarbeitet, dann werden sich die Leute immer damit irgendwie identifizieren können, ganz gleich, ob’s um gute oder schlimme Erfahrungen geht. Ich hoffe natürlich, dass die neuen Songs die Leute genau so berühren werden, quasi von Mensch zu Mensch. Die Texte sind keineswegs abgehoben, sie drehen sich auch nicht um materielle Dinge, es geht einfach nur ums Leben selbst. Und es ist doch auch echt langweilig, andauernd nur über irgendwelche Katastrophen zu schreiben; da fühlt es sich viel besser an, wenn man auch mal über was wirklich Grandioses und Tolles schreibt.“
Zugleich beginnt mit dem Song „Three Hearts“ eine ganze Serie von Stücken, die extrem zurückgelehnt an das Erbe von klassischem Soul und Chamber-Pop anknüpft – und somit auch an diejenigen Aufnahmen, die Alex ganz, ganz früher in seinem Schlafzimmer gemacht hat: Tür zu, einfach mal die Außenwelt aussperren, Beats bauen und Songs schreiben. „Überhaupt spielt das Songwriting dieses Mal eine viel größere Rolle“, sagt Alex. „Ich habe mich ganz bewusst auf die Melodien und die Texte konzentriert, also nicht mit den Beats und den elektronischen Sounds angefangen. Die tauchen natürlich trotzdem in den Songs auf, genauso wie echt viele Samples, besonders im Fall des Titelstücks, aber es gibt eben auch sehr viele Live-Instrumente, viel Klavier, viel Gitarre, viel Orgel-Sounds – das Ganze hat einfach diesen klassischen Sound.“
Alex stammt aus einer jüdischen Familie, und seit der Zeit kurz vor der Veröffentlichung von The Lateness of the Hour ist ihm sein Glaube zunehmend wichtiger geworden: Einer der vielen charmanten Züge, die ihn ausmachen, ist die Tatsache, dass er sich weder für seinen Glauben entschuldigt, noch irgendwelche Kompromisse diesbezüglich eingehen würde – immerhin ist Alex Clare der Typ, der das Angebot, im Vorprogramm von Adele auf US-Tour zu gehen, ausgeschlagen hat, weil er im Rahmen dieser Shows nämlich auch am Sabbat hätte auftreten müssen. Er selbst betrachtet seine Musik und seinen Glauben als untrennbar miteinander verbunden: Beides prägt sein ganzes Leben, durchzieht jeden Lebensbereich, beeinflusst, mit wem er sich umgibt und wen er trifft, was für musikalische Statements er macht. „Man sollte doch eigentlich meinen, dass die Religion die letzte Sache ist, die man einem anderen Menschen übelnehmen kann“, meint er, „aber irgendwie scheint genau das inzwischen gesellschaftlich akzeptiert zu sein – was echt traurig und seltsam ist. In Zeiten der Intoleranz könnte man doch sagen, dass gerade dieser Glaube das Menschsein ausmacht, und doch bleiben viele Menschen schrecklich intolerant, was dieses Thema anbelangt. Ich jedenfalls werde meinen Glauben niemandem aufzwängen, darum geht’s auch gar nicht. Es geht stattdessen um individuelles Vorankommen, also nicht darum, alle anderen bekehren zu wollen. Nur wenn man dann ein paar Entscheidungen für sich erst mal getroffen hat, muss man eben auch dazu stehen.“
Vor ein paar Jahren, als der Glaube noch keine so große Rolle in seinem Leben spielte, war Alex fest verankert in der Szene von Camden: Immer unterwegs in London, zwischenzeitlich sogar mal mit Amy Winehouse zusammen (die er schmerzlich vermisst), immer auf Partys – so entstanden schließlich auch die sich selbst zerfleischenden Songs, die weite Teile von The Lateness of the Hour ausmachten. Fragt man ihn heute, ob in seinem damaligen Leben etwas gefehlt hat, so kommt seine Antwort wie aus der Pistole geschossen: „Nein, das würde ich nicht sagen. Es war da eher etwas in mir, das gefüttert werden wollte – und man konnte dieses Etwas mit positiven oder auch genauso gut mit negativen Dingen füttern. Ich hatte schon viel zu lange auf Negatives gesetzt, bis ich irgendwann diese unglaubliche Quelle an positiven Dingen entdecken sollte: Sich einfach auf etwas Größeres zu konzentrieren, anstatt immer nur auf mich selbst und mein eigenes Leben zu schauen. Überhaupt neigen Musiker ja eher dazu, egoistisch und egozentrisch zu sein, dabei kommt jeder Mensch irgendwann an diesen Punkt, an dem man den Blick auf etwas anderes richten muss; besonders für Menschen, die nicht gerade selbstlos veranlagt sind, ist das besonders wichtig. Ich jedenfalls hatte schon immer dieses Bedürfnis, etwas zu geben, ein besserer Mensch zu sein und ein besseres Leben zu führen… und dann habe ich ja irgendwann den für mich richtigen Weg dorthin gefunden.“
Einzusehen, dass man sein Leben verändern muss, sei dabei natürlich nur der erste Schritt; diese Einsicht dann auch in die Tat umzusetzen, das sei die eigentliche Schwierigkeit: „Man kann sich doch auch ein Buch über Gehirnchirurgie durchlesen, obwohl man nie so einen Eingriff selbst durchführen wird. Das mit dem Verändern des eigenen Lebens verhält sich genauso: Du kannst genauso da sitzen und dich entschuldigen und dich schrecklich fühlen, weil du diese oder jene Sache gemacht hast, aber wirklich passieren wird erst dann etwas, wenn du die Sache endlich selbst in Angriff nimmst.“  
„Die Gesellschaft, oder besser gesagt ein Teil davon, hat gewisse Regeln aufgestellt, an denen sich der Erfolg eines Menschen angeblich messen lässt, die einem dabei helfen sollen, ein zufriedenes Leben zu führen, aber wer sich an diese Regeln hält und sie befolgt, wird hinterher einfach nur unglaublich enttäuscht sein und in sich eine unglaubliche Leere spüren. Wenn du zum Beispiel jeden Abend Party machst und dich betrinkst, dich also einfach nur auf den Moment konzentrierst, Spaß haben und rummachen willst, dann wird dich das bestimmt nicht zum glücklichsten Menschen auf Erden machen, weil diese Art von Leben einem nun mal nicht gerade viel zurückgibt. Wenn du jedoch etwas für einen anderen Menschen tust, wirst du dich danach gut fühlen – was natürlich dermaßen mustergültig und strebermäßig klingt, dass einem fast schon schlecht werden könnte! Aber mal ernsthaft: Die Welt da draußen ist doch dermaßen oberflächlich, es muss doch einfach noch mehr geben, als immer nur den eigenen Trieben nachzujagen. Wir alle haben diese animalische Seite in uns, und es ist echt nicht besonders schwer, sie zu befriedigen, aber wir haben eben auch die menschliche Seite, und die zu befriedigen fühlt sich einfach noch besser an.“
Apropos animalische Seite: Denkt man noch einmal an The Lateness of the Hour zurück, waren die Produktionen von Diplo & Switch gerade deshalb so genial als Fundament dieser Songs, weil sie den inneren Stier, diese wilden, animalischen Triebe, die Alex in den Songs thematisierte und kanalisierte, gewissermaßen im Zaum hielten, sie diesem Triebwesen quasi eine Form gaben. Doch ist wie gesagt vieles passiert im Leben des Sängers, was Three Hearts gleich in mehrfacher Hinsicht widerspiegelt: Die Songs klingen noch ehrlicher, noch demütiger; sie beziehen sich noch stärker auf seine Lebensumstände, seine Umwelt, und wichtiger noch: auch der Klang seiner Stimme trägt diese Veränderungen nach außen. Immerhin haben wir es hier mit einem Künstler zu tun haben, dessen Organ ausbrechen kann wie ein tosender, grölender Vulkan. Keine Filter, keine Nachbearbeitung im Studio, keine Tricks – nichts sollte dieses Mal zwischen dieser Stimme und den Zuhörern stehen. Auch deshalb kann man sich den Gefühlen, die Alex Clare auf seinem neuen Album präsentiert, unmöglich entziehen. 
Das letzte Mal, dass ich Alex davor gesprochen hatte, war im Rahmen eines ausverkauften Konzerts im Londoner Scala, ein Abend, der sich wie eine Krönungsfeier anfühlte: „Too Close“ war längst ein Mega-Hit, The Lateness of the Hour war in den britischen Top−20, seine Eltern blickten stolz vom obersten Rang auf ihren Sohnemann, und das Publikum beherrschte wirklich jeden Songtext Wort für Wort. Und da stand er also, wie immer ohne jeden Anflug von Modebewusstsein: Die braunen Halbschuhe ausgelatscht und, na klar, die Mütze auf dem Kopf. Und die Mütze, sage ich dann, während wir uns schon halb voneinander verabschieden, ob die auch bei der Kampagne zum zweiten Album eine Rolle spielen wird? „Ich hatte vor ein paar Tagen ein Fotoshooting“, wehrt Alex ab, „und der Fotograf meinte irgendwann: ‘Kannst du die Mütze mal abnehmen?’ Ich darauf so, ‘Äh, nein.’“ Bahnt sich da etwa eine Glatze an, rutscht es mir doch tatsächlich raus. „Nein, ich habe keine Probleme mit Haarausfall“, sagt Alex, tut so, als würde er sich darüber aufregen und lacht dann los. „Ich trage die Mütze, weil ich Jude bin und meinen Kopf bedecken muss. Okay, also ich habe inzwischen auch das Gefühl, dass ich in Sachen Kopfbedeckungen vielleicht etwas mehr Abwechslung reinbringen muss, wenn das neue Album kommt und die nächste Tour ansteht. Und wer weiß, vielleicht komme ich irgendwann mit einem Stetson auf dem Kopf auf die Bühne.“ Jetzt muss er nur noch sein Wort halten.
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