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Das hohe C des Andrea Bocelli: Ein Interview mit Andrea Bocelli

31.08.2000
Nach “Arie Sacre” und dem Opernalbum “Aria” erweist Andrea Bocelli mit seinem jüngsten Album dem populärsten italienischen Opernkomponisten seine Reverenz – Giuseppe Verdi. In unserem Gespräch plaudern der italienische Tenor und der Stardirigent Zubin Mehta über das Geheimnis der Faszination Giuseppe Verdis und seiner unsterblichen Melodien.
KlassikAkzente: Andrea, Sie haben in Opern von Puccini und Massenet auf der Bühne gestanden, Verdi musste da bislang noch zurückstehen. Warum nun dennoch ein reines Verdi-Album?
 
Andrea Bocelli: Da nächstes Jahr Verdis einhundertster Todestag ansteht, wollte ich zum Gedenken an diesen großen italienischen Komponisten ein Album einspielen. Es ist schwer zu sagen, welche der Arien ich am meisten liebe, denn sie sind allesamt großartig. Doch eine stellte mich von Anfang an vor eine besondere Herausforderung, “Di quella pira” aus “Il Trovatore”. Sie verlangt “agilitá” und gleichzeitig “forza”. Ich habe es immer vermieden, sie zu singen, aber für dieses Album war sie einfach ein Muss. Aus dem Grund war ich gezwungen, sie einzustudieren, und habe hart daran gearbeitet.
 
KlassikAkzente: Maestro, auch für Sie ist dieses Album gewissermaßen eine Rarität.
 
Zubin Mehta: Ja, denn eigentlich spiele ich immer nur vollständige Opern ein und keine Recitals. Das habe ich bisher nur sehr selten getan und bin deswegen auf diesem Gebiet ebenso Anfänger wie alle anderen auch. Bei Recitals muss man – und das selbst hier, wo wir uns mit nur einem einzigen Komponisten beschäftigten – unglaublich viele Stile und Schaffensphasen berücksichtigen, wobei wir im vorliegenden Fall jedoch nicht chronologisch vorgegangen sind. Aber beispielsweise sollte man mit dem frühen Verdi-Klang vertraut sein, mit dem frühen “banda-Stil”, oder zumindest wissen, vor welchem Hintergrund die Musik entstand. Bei “Don Carlos” aus Verdis mittlerer Schaffensperiode etwa klingen Orchester und Stimme dann schon ganz anders …
 
KlassikAkzente: … ein Blick in Ihren Auftrittskalender oder auf die Diskographie zeigt, dass Sie sich den Herausforderungen des jungen Verdi ebenso konsequent gestellt haben – und nach wie vor stellen – wie denen des späteren, reifen Komponisten.
 
Zubin Mehta: Natürlich waren wir alle mit diesen unterschiedlichen Stilen Verdis vertraut, und die Arbeit mit einem so flexiblen Orchester wie dem Israel Philharmonic hat ein Übriges dazu beigetragen. Die Musiker haben bereits viele Erfahrungen mit Verdi gesammelt, das kam uns allen zugute.
 
KlassikAkzente: Wenn Sie die Wahl hätten, welchem der großen italienischen Opernkomponisten würden Sie persönlich den Vorzug geben?
 
Andrea Bocelli: Es gibt in Italien viele großartige Opernkomponisten, aber die drei größten sind nun mal Rossini, Verdi und Puccini. Und Verdis Opern sind in Italien einfach am populärsten … Zu Verdis Lebzeiten zeigte das italienische Publikum ein enormes Interesse an der Oper. Immerhin war das ja auch die Geburtsstunde Italiens als unabhängige Nation, die Zeit des so genannten Risorgimento, und Verdis Opern mit ihrer patriotischen Botschaft haben die Menschen ganz besonders in Bann geschlagen.
 
Zubin Mehta: Das ist genau der springende Punkt: Verdi ist ganz sicher der bedeutendste italienische Opernkomponist, und zwar gerade wegen seiner Lebensdaten. Er erlebte die österreichische Herrschaft, den Freiheitskampf Garibaldis und die Schaffung eines italienischen Nationalstaats und war selbst eng mit all diesen Ereignissen verbunden. Und doch war er kein Politiker, kein aktiver Revolutionär. Nur in seinen Opern thematisierte er symbolisch seine Kritik an der österreichischen Herrschaft und wurde damit mehr als einmal zur Zielscheibe der österreichischen Zensur. Die italienischen Revolutionäre setzten Verdi und seine Musik zu ihrem Zweck ein; dadurch wurde er zum Synonym für den Kampf Italiens gegen die Fremdherrschaft. Sogar seine Initialen dienten den italienischen Patrioten als heimlicher Code für den Kampf gegen die Fremdherrschaft: V.E.R.D.I. bedeutete damals “Viva Emmanuele Re d’Italia” und fand sich auf Straßen und Plätzen, an Häuserwänden und auf Flugblättern!
 
KlassikAkzente: Aber Verdis Musik ist ja keineswegs nur in Italien so populär …
 
Andrea Bocelli: Sicher, das alles erklärt nur Verdis ungemein hohen Beliebtheitsgrad in Italien. Aber seine Melodien überwinden doch alle nationalen Grenzen, und letztendlich sind sie nichts weniger als wunderbare Musik. Sie besitzen eine starke innere Kraft und vermitteln Botschaften voller Ewigkeitswert. Und das, glaube ich, ist der Grund, warum Verdis Musik von Anfang an in aller Welt bekannt und beliebt gewesen ist.
 
KlassikAkzente: Verdi hatte ein untrügliches Gespür für eingängige Melodien, in seinen Opern stattete er nahezu jede Stimmlage mit herrlichen Arien aus. Warum also haben die Tenöre in der Gunst des Publikums dennoch immer die Nase vorn?
 
Andrea Bocelli: Das Publikum liebt einfach die Tenorstimme, und ich glaube, das hat auch damit zu tun, dass viele Opernkomponisten die – wie ich finde – grandiose Idee hatten, Tenöre mit den Rollen der großen Liebhaber und Helden zu betrauen. Und deswegen fühlte sich wohl das Publikum von Anfang an besonders zu ihnen hingezogen, meinen Sie nicht?
 
Zubin Mehta: Ich glaube aber auch, dass es die hohe Note ist. Da sollte man sich nicht täuschen. Und Andrea hat sie. Und wie! Einmal hat er zusammen mit Fiorenza Cedolins im Konzert das Ende des ersten Aktes von “La Bohème” gesungen. Sie haben das hohe C gehalten, bis ich den Akt abschlug. Das habe ich noch nie gehört. Bei einer Bühnendarbietung treten die Sänger natürlich ab, sie verschwinden sozusagen mit der Note, und das Publikum fängt an zu klatschen. Aber bei dem Konzert haben die beiden die Note bis zum Ende der Musik gehalten. Gut, das ist nicht unbedingt das, was Puccini in der Partitur vorgeschrieben hat, aber trotzdem war es ungemein aufregend. Und natürlich tobte das Publikum vor Begeisterung. Das ist bei Verdi nicht anders.
 
KlassikAkzente: Dieses Album ist nicht Ihre erste Zusammenarbeit mit Maestro Mehta. Was ist das Besondere an der Arbeit mit ihm?
 
Andrea Bocelli: Zubin Mehta kennt die Schwierigkeiten eines Sängers genau. Das machte die Arbeit mit ihm extrem unkompliziert und sehr angenehm. Und ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass es auch deshalb eine der schönsten Erfahrungen in meiner Laufbahn war, weil man bei der Arbeit mit ihm wirklich etwas lernt. Das Schönste an unserem Beruf ist doch, dass man jeden Tag etwas Neues lernt und dadurch immer besser wird. Ich finde, wenn ein Künstler sich nicht mehr verbessert – sei es, weil man an seine persönlichen Grenzen stößt oder aus mangelnder Motivation -, dann entgeht ihm das Beste an seinem Beruf.
 
Zubin Mehta: Es freut mich, wenn Andrea das so empfunden hat. Aber so etwas kann nur miteinander funktionieren. Sehen Sie, Andrea ist zu mir nach Wien und nach Florenz gekommen, um das ganze Programm am Klavier durchzugehen, und später, um es mit dem Orchester zu proben. Wenn Andrea mir bei den Orchesterproben zuhört, sitzt er da und formt die Worte mit den Lippen. So bauen wir jede Arie auf, und wenn wir sie dann schließlich aufnehmen, ist es nachgerade wie ein öffentlicher Auftritt. Andrea ist wie ein Schwamm, allerdings nicht in dem Sinn, dass er einfach tut, was man ihm sagt. Das nicht. Es wird schon auch diskutiert. Beispielsweise über Tempofragen … Aber im Grunde genommen hatten wir bislang nur minimal unterschiedliche Auffassungen und konnten uns immer freundschaftlich einigen. Und dann schauen Sie: Andreas Stimme ist in vieler Hinsicht außergewöhnlich. Zum einen hat er absolute Kontrolle von forte bis pianissimo, und das bei jeder Note. Am Ende von “Celeste Aida” beispielsweise singt er das hohe B zuerst forte und wird dann immer leiser, bis zum zartesten pianissimo. Andererseits kann er auch in der Mitte einer Phrase ohne Luft zu holen den Farbton einer Note variieren. Das können die allerwenigsten. Und davon träumt doch jeder Dirigent: Sich etwas zu wünschen, und es dann auch noch zu bekommen!

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