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Charlie Haden with Gonzalo Rubalcaba – Land Of The Sun

10.09.2004
In den über fünfzig Jahren seiner Karriere hat Charlie Haden sich immer bemüht, musikalische Grenzen niederzureißen. Haden, der als einer der größten Jazzbassisten aller Zeiten gilt, überraschte dabei immer wieder mit stilistisch völlig unterschiedlichen Alben: das Spektrum reicht von sämtlichen Schattierungen des Jazz (inklusive Avantgarde und Free Jazz) über Weltmusik, Folk und Country & Western bis hin zu Gospelmusik und Blues. Mal präsentiert er sich dabei in kleinen Besetzungen und oft genug nur mit einem Duo-Partner, dann wieder mit einer Bigband oder einem ganzen Streichorchester.
Seine Auftritte beim 25. Festival International de Jazz de Montréal, das gerade stattfand, waren symptomatisch: An einem Abend war in Duetten mit dem britischen Pianisten John Taylor und dem brasilianischen Gitarristen/Pianisten Egberto Gismonti zu erleben, am nächsten im Trio mit Saxophonist Dewey Redman und Schlagzeuger Matt Wilson, dann wieder mit seinem Quartet West und schließlich mit der gerade wieder neuformierten Politaktivisten-Bigband Liberation Music Orchestra.
 
Nicht zuletzt beeinflußt durch seine politische Ader, die ihm den Ruf eines notorischen Linken und manchen Ärger (inklusive einer Verhaftung in Portugal im Jahre 1971) einbrachte, begann sich Charlie Haden schon in den 60er Jahren besonders für lateinamerikanische Musik zu interessieren. Rechnung trug er dieser musikalischen Leidenschaft vor allem auf den Platten des Liberation Music Orchestra, vor drei Jahren aber auch auf dem traumhaften Album “Nocturne”, das balladeske (aber gänzlich unpolitische) Boleros aus Mexiko und Kuba enthielt und prompt mit einem Grammy als bestes Latin-Jazz-Album belohnt wurde.
 
Mit seinem neuesten Album “Land Of The Sun” knüpft Charlie Haden zwar in mancherlei Hinsicht an “Nocturne” an, schlug zugleich aber musikalisch und konzeptionell eine andere Richtung ein. Auch diesmal hat er die Songs im Trio mit dem Pianisten Gonzalo Rubalcaba und dem Schlagzeuger Ignácio Berroa eingespielt, zu denen sich wieder einige Gastmusiker gesellten. Und obwohl das gesamte Repertoire von drei mexikanischen Komponisten stammt, die vor allem für ihre Boleros bekannt sind, ist die stilistische Bandbreite diesmal sehr viel weiter gefächert. Im Mittelpunkt stehen die Werke José Sabre Marroquíns (1909–1995), dessen Komposition “Nostalgia por México” auch auf zahllosen Compilations mit klassischer Musik wiederzufinden ist. Neben den acht Stücken aus der Feder von Marroquín gibt es dann noch jeweils eines von Agustín Lara Aguirre del Pino (1896 −1970) und Armando Manzanero (Jahrgang1935).
 
“Die lateinamerikanische Musik, die man in den USA [aber auch in Europa] hören kann, ist fast immer uptempo”, erläutert Charlie Haden. “Kaum jemand kennt und hört hingegen die wundervollen lateinamerikanischen Balladen und Liebeslieder. Deshalb habe mich entschlosen, sie dem Rest der Welt nahezubringen, damit die Leute endlich hören können, wie schön diese Musik ist.”
 
Die Idee zu “Land Of The Sun” kam Charlie Haden letztes Jahr, als ihn Patricia Mendes, die Tochter des 1995 verstorbenen José Sabre Marroquín, nach einem Konzert in Austin/Texas hinter der Bühne aufsuchte. Mendes wollte sich bei Haden dafür bedanken, daß dieser auf dem Album “Nocturne” mit “Nocturnal” ein Stück ihres Vaters aufgenommen hatte. Und sie tat dies, indem sie ihm eine Mappe mit Transkriptionen einiger weiterer Kompositionen ihres Vaters überreichte. Haden war ebenso gerührt wie begeistert und studierte das Material sofort bei sich zu Hause in Los Angeles. Dann rief er seinen langjährigen Freund und musikalischen Partner Gonzalo Rubalcaba in Coral Springs/Florida an und meinte zu ihm: “Mit diesen Stücken müssen wir unbedingt ein Album machen.”
 
Haden schickte Rubalcaba Kopien der Notenblätter zu, und dieser machte sich umgehend daran, Arrangements für die Stücke zu schreiben. Dann reisten Haden und seine Frau Ruth Cameron nach Miami, um sich dort mit dem exil-kubanischen Pianisten zu treffen und weitere Einzelheiten des Projekts durchzusprechen. Während viele der Marroquín-Stücke als Meilensteine der mexikanischen Popularmusik gelten, wurden andere Werke wie die bereits erwähnte “Nostalgia” oder der “Canción de cuna” für Piano und Violine oder Piano und Flöte komponiert. Es sind eher klassische Arbeiten, die für ein improvisierendes Jazzensemble nicht so leicht adaptierbar sind. Haden und Rubalcaba mußten ganze Arbeit leisten, um diese Werke zu ihrem Zwecke umzugestalten.
 
“Darüber habe ich mir anfangs wirklich ziemlich den Kopf zerbrochen”, gesteht Haden. “Ich dachte: ‘Wie sollen wir die bloß spielen, so daß die Musiker darüber improvisieren können?’ Gonzalo und ich feilten lange herum, und schließlich schrieb er diese großartigen Arrangements, bei denen er verschiedene Strömungen, Pulse und Tempi benutzte.”
 
Das Projekt erhielt den postumen Segen Marroquíns, als der Enkel des Komponisten, der Songwriter Criz Sabre, Haden und Rubalcaba bei den ersten Probesessions besuchte und anmerkte, wie stolz sein Großvater wohl gewesen wäre, wenn er sie hätte hören können. Der nächste Schritt war, die musikalische Palette durch das Hinzufügen anderer Klangfarben noch zu erweitern.
 
“Ich wollte diese Platte nicht zu einer Art ‘Nocturne II’ werden lassen”, meint Haden. “Auf ‘Land Of The Sun’ befinden sich nicht nur Boleros, die Stücke sind rhythmisch und stilistisch sehr unterschiedlich. Deswegen wollte ich diesmal auch eine andere instrumentale Konfiguration – statt einer Violine wollte ich eine Flöte und vor allem eine Trompete dabeihaben. Seit meiner ersten Platte, die ich 1969 mit dem Liberation Music Orchestra aufnahm, habe ich kein Album mehr mit einem Trompeter als Solisten gemacht. Aber hier wollte ich unbedingt einen, weil der diesem Album einen sehr mexikanischen Klang gibt.”
 
Haden und Rubalcaba sahen sich also nach Musikern um, die vor allem auch im Spielen lateinamerikanischer Musik versiert sein mußten. Die beiden ersten, die sie anriefen, waren Schlagzeuger Ignácio Berroa und Tenorsaxophonist Joe Lovano, mit denen sie schon auf “Nocturne” so hervorragend zusammengespielt hatten. Dann stellten sie eine Liste mit den Namen einiger hochtalentierter jüngerer Musiker zusammen, von denen schließlich Flötist Oriente López, Trompeter Michael Rodríguez, Altsaxophonist Miguel Zenón und Gitarrist Lionel Loueke zu den Aufnahmesessesions eingeladen wurden.
 
Der Flötist (und Keyboarder) Oriente López wurde 1962 auf Kuba geboren und spielte in seiner Heimat schon mit nationalen Größen wie Silvio Rodríguez, Chucho Valdés, Arturo Sandoval und Pablo Milanés, aber auch mit südamerikanischen Popstars wie dem Brasilianer Chico Buarque oder dem Argentinier Fito Paez zusammen. 1993 zog er nach New York, wo er seitdem schon mit so unterschiedlichen Künstlern wie Paul Simon, Paquito D’Rivera, Marc Anthony, Rubén Blades und Regina Carter gearbeitet hat.
 
Der Altsaxophonist Miguel Zenón stammt aus Puerto Rico und spielte schon mit Bob Moses, dem Either/Orchestra, der David Murray Big Band, Ray Barretto und David Sanchéz. Anfang des Jahres hat er auf Branford Marsalis' Label Marsalis Music sein zweites Soloalbum “Ceremonial” vorgelegt.
 
Der junge Trompeter Michael Rodríguez kam 1979 als Sohn des kubanischen Schlagzeugers Roberto Rodríguez und einer Amerikanerin in New York zur Welt. Wie sein Bruder, der Pianist Robert Rodríguez, wuchs er unter dem musikalischen Einfluß seines Vaters auf. Michael hat u.a. schon mit Clark Terry, Bobby Watson, Quincy Jones, Carla Bley, Joe Lovano, Harry Connick Jr., Toshiko Akiyoshi, Chico O’Farrill, Eric Reed, dem Lincoln Center Orchestra und der Carnegie Hall Jazz Band gearbeitet und ist derzeit auch Mitglied von Charlie Hadens neuem Liberation Music Orchestra. Die beiden Brüder veröffentlichten vergangenes Jahr gemeinsam das Album “Introducing The Rodríguez Brothers”.
 
Der Gitarrist Lionel Loueke hat keine lateinamerikanischen Vorfahren, sondern stammt – wie die Sängerin Angélique Kidjo – aus dem kleinen westafrikanischen Land Benin. Während seines Musikstudiums in Abidjan/Elfenbeinküste entdeckte er durch Platten von Wes Montgomery, Joe Pass und George Benson sein Faible für den Jazz. Danach lebte und studierte er vier Jahre in Frankreich, bevor er 1999 in die USA ging, wo er seitdem schon Größen wie Kidjo, Terence Blanchard, Herbie Hancock, Wayne Shorter, Cassandra Wilson und Diana Reeves bei Plattenaufnahmen und Konzerten begleitete.
 
“Ich bin immer auf der Suche nach neuen Musikern und Konstellationen”, sagt Haden. “Ich versuche, Musiker zusammenzubringen, die zaubern können. Und in der Regel gelingt mir das auch. Was zählt, ist eigentlich nicht so sehr die Kombination, als vielmehr die einzelnen Individuen und ihre Werte. Wenn ich einen Musiker finde, der dieselben Werte hat wie ich, dann möchte ich mit ihm auch Musik machen.”
 
Ein Stück – das herrliche “Sueño solo con tu amor” – blieb lange Zeit unvollendet, da noch Raum für einen Gitarristen gelassen wurde, der einen anderen Stil haben sollte als Lionel Loueke. Als die Aufnahmesessions dann schließlich beendet waren, war dieses Stück noch immer nicht fertig und wäre fast nicht auf dem Album erschienen. Während des Abmischens in Los Angeles kam Haden aber zu dem Urteil, daß dieser Song und die Aufnahme zu gut waren, um unter den Tisch zu fallen.
 
“Ich sagte zu Gonzalo: ‘Mann, das ist so ein schönes Lied, das können wir nicht einfach außen vor lassen’”, erinnert sich Haden. “Dann rief ich Larry Koonse an. Er spielte die Melodie ganz wunderbar sowie auch ein fantastisches improvisiertes Solo und rundete dadurch das Stück ab.”
 
Larry Koonse begann seine professionelle Musikerlaufbahn schon früh. Gemeinsam mit seinem Vater Dave nahm er als 15jähriger sein erstes Album auf: “Father And Son Jazz Guitars”. Neben seiner Tätigkeit als Gitarren-Dozent und Orchester-Solist fand er auch immer Zeit für Aufnahmen mit Künstlern wie Cleo Laine, Al Hirt, Jimmy Rowles, Lee Konitz, Alan Broadbent, Ray Brown, Bob Brookmeyer, Bill Perkins, Mel Tormé, Toots Thielemanns, David Friesen, Warne Marsh oder Bob Sheppard.
 
Während die meisten der Kompositionen Marroquíns, die für “Land Of The Sun” aufgenommen wurden, so arrangiert wurden, daß genügend Spielraum für die spontane Musikalität der Protagonisten blieb, wurde “Añoranza” haargenau so aufgeführt, wie es das Arrangement von Rubalcaba und López vorsah. “An der Melodie wurde nichts geändert und es gibt hier auch überhaupt keine Improvisation”, erläutert Haden. “Das Stück ist auch so wirklich wundervoll!”
 
Außer den acht Songs von José Sabre Marroquín spielen Haden und seine Begleiter auf “Land Of The Sun” noch zwei weitere sehr populäre mexikanische Songs: Armando Manzaneros “Esta tarde ví llover” und Agustín Laras Klassiker “Solamente una vez”, der schon in mindestens fünf verschiedenen Sprachen eingesungen wurde und von dem es englische Interpretationen von Frank Sinatra und Elvis Presley gibt.
 
“Ich versuche, Songs aus allen möglichen Kategorien zu spielen”, sagt Haden. “Lieder, von den ich meine, daß sie eine Bedeutung haben und schön sind, mit wunderbaren Melodien und großartigen Akkordstrukturen. Denn ich möchte die unterschiedlichsten Hörer erreichen und immer mehr Leute an diese Kunstform namens Jazz heranführen. Die brauchen wir heute nämlich mehr denn je.”
 
“Auf der anderen Seite möchte ich den Jazz aber auch neuen Impulsen aussetzen”, fährt er fort. “Ich möchte kein zu sehr eingeschränktes Publikum haben, sondern auch Leute erreichen, die nie zuvor ein Jazzkonzert besucht haben. Ein Weg, dieses Ziel zu erreichen, ist der, Platten mit den unterschiedlichsten Arten Musik zu machen.”
 
Nachdem die Aufnahmen endlich komplett fertig waren, schickte Haden Patricia Mendes eine Vorab-Kopie von “Land Of The Sun” zu. Mendes rief Haden schon wenig später an, um ihm mitzuteilen, wie sehr sie diese Einspielungen der Kompositionen ihres Vaters bewegt hätten. “Als sie anrief, kämpfte sie fast mit den Tränen”, berichtet Haden. “Diese Musik bedeutet ihr sehr viel – eines dieser Lieder wurde für sie geschrieben, als sie ein Baby war, ein anderes, als sie selber Mutter wurde.”
 
“Land Of The Sun” ist ein einzigartiges Album, an dessen Realisierung alle Beteiligten mit ganzem Herzen mitgewirkt haben. Die Intuition spielt in Charlie Hadens Lebensphilosophie eine ebenso große Rolle wie in seiner Musik. Und genau diese intuitive Herangehensweise an das ihm vorher fremde Material macht “Land Of The Sun” dann auch zu einem so außergewöhnlichen Meisterwerk.

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